Das Jesusfragment
wieder in ihre Arbeit. Ich wusste nicht, ob sie mich foppte oder ob sie es ernst meinte. Wie auch immer: Ich brauchte unbedingt Klamotten, egal, wie sie aussahen.
Eine Stunde später besaß ich tatsächlich eine komplett neue Garderobe. Die Verkäufer mussten mich für einen Exzentriker gehalten haben, als ich mich von Kopf bis Fuß, einschließlich der Unterwäsche, in der Kabine neu einkleidete, und ich hatte etwas Mühe, sie davon zu überzeugen, mir den Rest der Sachen ins Hotel zu liefern. Aber wie überall auf der Welt regelt auch in Frankreich Geld am Ende alles.
Ich verließ das Geschäft wie ein Yuppie und rief ein Taxi.
Während der ganzen Fahrt jammerte mir der Chauffeur vom harten Leben der Pariser Taxifahrer vor, von unmöglichen Arbeitszeiten, von Staus, von aggressiven Verkehrsteilnehmern und dreckigen Amerikanern, die immer nur mit Kreditkarte zahlen wollten. Um einen diplomatischen Zwischenfall zu vermeiden, bat ich ihn, vor einer Bank zu halten, damit ich Bargeld abheben konnte. Dann beschloss ich, den Weg zu Fuß fortzusetzen.
Ich ging die Seine bis zum Quai François-Mauriac entlang und erkannte diesen Teil des linken Ufers kaum wieder, so sehr hatte er sich seit meiner Abreise verändert.
Neuer Ausblick, neue Brücke, neuer Vorplatz, neue Passanten. Sogar neue Straßennamen. Die vier Türme, die sich auf einer Fläche von grauen Steinen erhoben, hatten etwas Faszinierendes, aber unwillkürlich musste ich an den Zauber des alten Quai de la Gare denken, an dem ich früher so viel Zeit verbracht hatte. An den Charme des alten Paris mit seinem Schmutz und seiner Unordnung, aber auch mit all seinem Leben!
Langsam ging ich die grauen Stufen zur Très Grande Bibliothèque hinauf, zugleich tief beeindruckt von der Erhabenheit des Ortes und höchst entsetzt über die großen, orangefarbenen Holzbretter, die hinter den Fenstern der vier Türme zu sehen waren. Ein wirklich ungeschickter Bruch mit der blaugrauen Harmonie des Gebäudes. Ich ging über den riesigen Vorplatz und beschloss, mich von seiner schlichten Schönheit gefangen nehmen zu lassen. Immerhin, in einigen hundert Jahren, würde das hier das alte Paris darstellen.
Als ich in der Mitte der Esplanade angelangt war, entdeckte ich voller Freude die prächtigen Gärten, die im Innenhof der Bibliothek verborgen waren. Hier bestand nicht alles aus Beton oder Glas. Und der Zauber funktionierte ziemlich gut. Ich erinnerte mich daran, dass ich vor meiner Abreise in die Vereinigten Staaten angesichts der Pyramide des Louvre genauso reagiert hatte. Anfangs fand ich den Gedanken lächerlich, ja skandalös, aber als die Pyramide erst einmal da war, begeisterte mich die natürliche Schönheit des Bauwerks. Die Glaspyramide war überhaupt nicht skandalös. Im Gegenteil, ich hatte den Louvre nie zuvor so schön gefunden.
Getrieben vom Wind, der über den Vorplatz der Bibliothek fegte, wandte ich mich rasch dem Eingang zu. Nachdem ich die Anmeldeformalitäten erledigt hatte, machte ich mich auf die Suche nach meinem Mikrofilm. Ich hatte keine Ahnung, wonach ich suchte. Ich besaß ja nur eine schlichte Signatur. Die Vorstellung, einen Mikrofilm zu suchen, von dem ich nichts wusste, war aufregend.
Ungeduldig versuchte ich zunächst, den richtigen Saal zu finden. Die Nationalbibliothek ist in zwei Ebenen gegliedert: zu einem Teil oberhalb des Gartens hat man freien Zugang. In dem anderen Teil, der sich auf gleicher Höhe mit dem Garten befindet, ist die Forschungsbibliothek angesiedelt, die nur mit besonderer Erlaubnis betreten werden darf. Die beiden Etagen umgeben den erstaunlich rechtwinklig angelegten Garten. Ich hielt die Nase gegen das Fenster gedrückt und bewunderte die vielen Bäume, eine sinnvolle Würdigung, denn durch ihresgleichen konnten tausende von Büchern hergestellt werden, die sich nun an diesem Ort aneinanderreihten.
Wenn sich der Mikrofilm im zugangsbeschränkten Teil der Bibliothek befand, wäre ich umsonst hier und Sophie müsste sich vermutlich persönlich mit ihrem Presseausweis herbemühen. Aber nach einem Blick in den Katalog, der über den Bibliothekscomputer eingesehen werden konnte, entdeckte ich, dass ich auf den Mikrofilm Zugriff hatte.
Ich irrte ein wenig im Kreis umher, bevor ich in dem Glaslabyrinth den richtigen Weg fand, und steuerte schließlich auf den Saal J zu, der bei einem Zwischengeschoss neben dem Turm für Geisteswissenschaften lag. Es war die Abteilung Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaften.
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