Das Jesusfragment
Wänden. Die Wohnung passte nicht zu ihr. Zu edel und zu klassisch. Vermutlich war es der Stil ihres Vaters.
»Was wissen Sie über meinen Vater?«, fragte sie mich und zerrte mich am Ellbogen.
Sie hatte noch nicht einmal ihren Mantel ausgezogen und ihr Blick verriet gleichermaßen Angst und Wut.
»Ich weiß, dass er eine außerordentliche Entdeckung über eine Religionsgemeinschaft in der Wüste von Judäa gemacht hat. Ich weiß, dass er einen Text darüber verfasst und vor zehn Jahren in der Nationalbibliothek hinterlegt hat. Ich weiß, dass er vor drei Wochen in Jerusalem ermordet wurde, und ich glaube, dass dies im Zusammenhang mit den Nachforschungen steht, die ich gerade anstelle.«
»Nachforschungen worüber?«, bedrängte sie mich.
»Das darf ich Ihnen wirklich nicht sagen.«
»Nun fangen Sie nicht wieder so an!«, erwiderte sie.
»Hören Sie zu, ich habe Ihnen schon einiges verraten, und Sie mir noch kein Wort.«
»Was ist der Gegenstand Ihrer verdammten Nachforschungen?«, beharrte sie.
Sie wirkte fast, als wollte sie mich bedrohen, was ich jedoch eher anziehend fand. Ich verstand, was sie empfinden musste. Die junge Frau schien tatsächlich mit den Nerven am Ende zu sein, und ich war davon überzeugt, dass sie keineswegs bösartig war. Ich holte tief Luft.
»Mein Vater wurde fast zur selben Zeit ermordet wie Ihrer. Ich hatte nichts damit zu tun, weil ich zu diesem Zeitpunkt in den Vereinigten Staaten lebte. Aber als ich anfing nachzuforschen, womit sich mein Vater vor seinem Tod beschäftigt hatte, entdeckte ich eine ganze Menge Dinge über Jesus, die Essener, eine religiöse Organisation namens Acta Fidei und ein mehr oder weniger geheimes Beratergremium, das sich Bilderberg nennt. Ich habe allen Grund zu glauben, dass mein Vater von einer dieser beiden Organisationen oder deren Dissidenten ermordet wurde. Den Hinweis auf den besagten Mikrofilm fand ich in den Notizen meines Vaters, und ich bin deshalb fast sicher, dass unsere Väter von denselben Personen umgebracht worden sind. Was halten Sie davon?«
»Sie sind der Sohn von Etienne Louvel?«, erkundigte sich die junge Frau und runzelte die Stirn.
Ich griff nach meiner Brieftasche in der Innentasche meines Anoraks und holte meinen Pass heraus. Claire Borella sah meinen Namen und mein Foto. Sie stieß einen langen Seufzer aus.
»O mein Gott!«, stammelte sie den Tränen nahe. »Ich … ich wusste nicht, dass Louvel einen Sohn hatte.«
Sie zog ihren Mantel aus, warf ihn auf den Tisch in der Diele und wandte sich dem kleinen Salon ihrer Wohnung zu. Dann ließ sie sich auf ein Louis-XV.-Sofa fallen und vergrub den Kopf in den Händen.
Ich trat schüchtern in den Salon und nahm auf einem Stuhl ihr gegenüber Platz. Eine Weile schwiegen wir. Ich sah, dass sie sich erst wieder fangen musste.
»Bestimmt hätte es die Dinge vereinfacht, wenn ich Ihnen gestern am Telefon meinen Namen genannt hätte«, sagte ich, als sie den Kopf hob. »Aber seit einiger Zeit bin ich leicht paranoid geworden.«
»Nein, Sie haben Recht gehabt. Tut mir Leid. Ich glaube, ich bin noch paranoider geworden als Sie. Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, beobachtet zu werden.«
Sie erhob sich.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Gern«, erwiderte ich.
»Whisky?«
»Wunderbar!«
Sie verschwand in der Küche und kehrte kurz danach mit einem Glas in jeder Hand zurück.
In der großen Wohnung wirkte sie ein wenig hilflos, von den Ereignissen überrollt, niedergeschlagen durch den Tod ihres Vaters, verängstigt, allein in diesem altmodischen Haus. Die Traurigkeit in ihrem Blick war so aufrichtig, dass ich fast verlegen wurde.
»Wie, sagten Sie, heißen diese beiden Organisationen?«, fragte sie und reichte mir einen Whisky.
»Acta Fidei und Bilderberg. Meines Wissens haben sie nichts miteinander zu tun. Die Erste hat ihren Sitz im Vatikan und ist mehr oder weniger mit dem Opus Dei verbunden, und die Zweite ist eine Art ultraliberale, übermächtige, internationale Geheimgesellschaft.«
Sie nickte bedächtig.
»Ich glaube, mein Vater hat mir davon erzählt! Der arme Papa wollte mir aber nicht zu viel sagen! Er wollte mich beschützen!«
»Würden Sie mir bitte erzählen, was passiert ist?«
Sie musterte mich eindringlich, zögerlich. Sicherlich war sie es nicht mehr gewohnt sich mitzuteilen, seit sie nach dem Tod ihres Vaters in voller Angst lebte. Aber man spürte, dass sie jemanden brauchte, mit dem sie über alles reden konnte, um sich davon zu
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