Das Joshua Gen (German Edition)
»Aber ich versuche doch lieber zu schlafen.« Sie drehte sich auf die Seite und zog die Bettdecke bis übers Kinn.
Vince trat vor die Tür. Sie hatten das Zimmer für eine Nacht gemietet, in einem Motel im Nordwesten Iowas. Bis Montana waren es noch neunhundert Meilen. Bis Montana und zu dem nächsten Jungen. Ben. Er war vor zwei Jahren verschwunden. Er hatte mit den Eltern abgeschieden gelebt. Nona hatte Vince das Foto in dem Zeitungsartikel von Pater Simon gezeigt. Ein altes Farmhaus mit schiefen Fensterläden. Hinter einem dieser Fenster musste es geschehen sein, das behaupteten jedenfalls Bens Eltern. Ihr Sohn, da waren sie sicher, war aus dem Haus entführt worden. Doch es fanden sich keinerlei Spuren. Die Polizei tappte im Dunkeln, wie bei den anderen Fällen. Ohio, Montana, Utah und Texas. Vier Bundesstaaten. Vier Entführungen. Vier Jungen im Alter von Max. Betrübt dachte Vince daran. Und er dachte an die Bewährungsauflagen, gegen die er gerade verstieß, an Nonas vergebliche Suche nach Informationen über ihren Vater, an die letzten Pillen in der Dose. Und er blickte in die Nacht, verloren wie der einzige Gast hinter der Scheibe des Schnellrestaurants auf der anderen Seite des Parkplatzes.
»Haben Sie inzwischen gewählt, Mister?«
Er sah sie an, als käme sie von einem anderen Stern. »Ohio. Montana. Utah. Texas ...«, kam es langsam aus seinem Mund. »Aber was dann? Was dann?«
Sein Starren machte sie unruhig.
»Ein Menü, ein Getränk, ein Dessert – etwas von der Vorderseite der Karte!« Sie drehte die Speisekarte um, die vor dem Mann auf dem Tisch lag. Seit fünfzehn Minuten hatte er die Rückseite der Karte angestarrt. Die Rückseite! Sie hasste die Nachtschicht. Immer hatte sie diese Freaks. Diesmal einen mit Handschuhen.
Er blickte auf. »Wenn ich Sie mir so ansehe, fällt meine Wahl nicht schwer, Miss ... Wie war noch Ihr Name?«
Ihr seid doch alle gleich, dachte sie. Aber was tat man nicht alles für ein anständiges Trinkgeld. Sie beugte sich vor, bis das Namensschild am großzügigen Ausschnitt ihrer Bluse fast die Nase des Fremden berührte.
»Miss Becky!« Ihr später Gast nickte zufrieden, machte aber nicht den Eindruck, als wolle er sich endlich der Speisekarte widmen. Er lächelte sie an. »Kennen Sie das Gefühl, in einer Sache nicht weiterzukommen?«
Oh ja, Mister! Die Bedienung sah ungeduldig auf die Karte.
»Hatten Sie je ein Problem vor sich und gleichzeitig dessen Lösung – aber Sie erkennen die Lösung einfach nicht?! «
Sie erschrak vor der plötzlichen Wut in seiner Stimme. Sollte sie den Koch rufen? Franks prächtige Muskeln hatten schon so manches Problem gelöst ... Ach, lieber nicht, sonst müsste sie sich Frank wieder wochenlang vom Hals halten. Er stand ja mächtig auf ihre neuen Brüste. Und außerdem lächelte der Fremde auch schon wieder.
»Manchmal frustriert mich meine Arbeit, Becky. Zum Glück habe ich Wege gefunden, mit dem daraus entstehenden Frust umzugehen.«
Er blickte auf ihren zu stark geschminkten Mund und dachte an Mrs. Owens, an ihren hübschen Garten und an ihren Hals. Man musste sich anstrengen beim Zudrücken eines so dicken Halses. Ja, eine Anstrengung war es gewesen, doch dann auch eine große Entspannung.
Kennen Sie das Gefühl, in einer Sache nicht weiterzukommen? Becky blickte auf die Speisekarte. Dann schoss es durch ihren blondierten Schädel. Analphabet! Das war das Problem, davon faselte der Freak. Er konnte die Karte nicht lesen! Sie lächelte breit. Ihre Hilfsbereitschaft würde das Trinkgeld erhöhen. Sie beugte sich weit vor und begann, ihm die Gerichte vorzulesen. Mitten im Iowa-Hackbraten mit Pfannengemüse und Backkartoffeln drehte er die Speisekarte wieder auf die Rückseite.
»Aber ...«, begann Becky und hielt inne.
Ihre Kette mit dem kleinen goldenen Kreuz war aus ihrem Ausschnitt gerutscht. Das Kreuz pendelte über dem Tisch, direkt vor ihren Rundungen. Er starrte darauf. Sie kannte den Glanz in seinen Augen. Alle Männer bekamen ihn bei dieser Aussicht. Doch den hier schien etwas anderes zu faszinieren. Seine Finger in den schwarzen Handschuhen zogen sanft an der dünnen Kette, zogen Becky tiefer, bis das goldene Kreuz die Rückseite der Speisekarte berührte.
»Hatten Sie je ein Problem vor sich und gleichzeitig dessen Lösung?«, wiederholte der Fremde seine merkwürdige Frage von vorhin. Dann begann er schallend zu lachen. Und Becky schrie nach Frank.
»Wir waren frustriert. Finde den Fünften. Nona
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