Das Joshua Gen (German Edition)
eines der Teilnehmer seines Analphabetenkurses. Nur diese kurzen sechs Sekunden waren es, die der Priester hören wollte. Sechs Sekunden des Schweigens.
Er erhöhte die Lautstärke und lauschte dem Atemgeräusch am anderen Ende, dem Klappern von Geschirr, dem Lied von Rea Garvey, dem Ruf nach der Restaurantbedienung Becky. Dann legte der schweigsame Anrufer auf. Pater Simon zwang sich, ihm nicht ein viertes Mal zu lauschen. Denn es würde seine aufkeimende Furcht nicht verringern. Er legte das Handy zurück auf den Beifahrersitz.
Seine Unruhe wuchs. Wer war dieser Anrufer? Nona? Vince? Der Fremde mit den Handschuhen? Die Ungewissheit nagte an ihm. Sie alle waren in diesem Schnellrestaurant gewesen. Doch was sollte der Anruf – was?! Gib es auf, dir über Gott und die Welt das Hirn zu zermartern. Über dich denke nach. Sortiere dich heraus aus allem. Durchdenke dies präzise und du wirst dich finden. Und mich! Worte einer Besessenen. Sie hatte sie ihm einst zugeraunt, während er sie exorziert hatte. Der Priester erschauderte. Ist der Teufel schon wieder so nah? Still betete er ein Vaterunser. Er musste auf andere Gedanken kommen. Er musste das Geschehen wieder kontrollieren. Er war der Anführer des Ordens, in dessen Händen das Schicksal der Welt lag. Dem Wagen vor ihm zu folgen, war zu wenig. Er musste in das Taxi! Nur nahe bei ihnen würde er Kontrolle über alles behalten. Pater Simon betete um ein Wunder.
Glaub nur an Wunder, die du selbst vollbringst. Sie lachte laut. »Welch wahres Wort, Mister Aufkleber!«, rief sie voller Überschwang und raste die Interstate 80 entlang. Sie war wie verwandelt. Es ging zum Versteck ihres Bruders in Colorado. Aber das war nicht der einzige Grund ihrer Ausgelassenheit. Sie hatte etwas Wichtiges über ihren Vater herausbekommen. »Endlich kenne ich seinen Namen!« Rasant überholte Nona einen riesigen Tanklastzug. Fast berührte das Taxi den Truck. Auf der Rückbank schwieg Vince vor sich hin.
»Hey, wollen Sie denn den Namen gar nicht wissen?«
»Nein. Ich will nur wissen, warum zum Teufel Sie auf Ihrem Computer rumtippen, während Sie lenken! Ich habe Sie nicht ans Steuer gelassen, um mein Taxi zu Schrott –«
»Ryan!«, beendete Nona kurzerhand seinen Protest. »Er hieß Thomas J. Ryan! Und er hat Molekularbiologie studiert. Hier, sehen Sie.« Sie reichte ihm den kleinen schwarzen Tablet-PC nach hinten. Sein Display zeigte stolze Absolventen auf den Stufen einer alten Universität. Einen der jungen Männer hatte sie in einem Fenster vergrößert. Er trug einen Vollbart.
»Der? Sind Sie sicher?«
»Zuerst übersah ich ihn. Ich hatte nicht mit solch einem Bart gerechnet, wohl ein Rückfall in die 68er.« Sie grinste in den Rückspiegel. »Dann sah ich in seine Augen. Im Gesicht eines Menschen verändert sich eines nie, Vince, die Augen ... und dann war da noch die Stadt.«
»Welche Stadt?«
»New York. Es war immer diese Stadt. Ich hätte gleich darauf kommen müssen. Hier gab Vater mich ins Heim, hier ließ er Mutter beerdigen, hier traf er sich mit Pater Simon, hier ging er in die Klinik. Er vertraute dieser Gegend, so wie man nur seiner Heimat vertraut. Also nahm ich mir noch mal die Unis von New York City vor, die Fotos der Absolventen. Schon an der NYU hatte ich Glück.«
»Riesenglück. Denn dass er studiert hat, konnten Sie doch gar nicht wissen«, bemerkte Vince.
Sie lächelte »Träumen nicht alle Kinder von einem Vater, der klug und allwissend und ein großer Forscher ist?«
»Mir hätte einer genügt, der nicht schlägt.«
Sie sah, wie es in ihm arbeitete. »Tut mir leid«, sagte sie.
Er ging darüber hinweg. »Ein Wissenschaftler also. Dann hat er bestimmt nicht nur die Kisten von diesem Lastwagen abgeladen, damals vor der Kathedrale von Turin. Leider können wir Ihren Vater nicht mehr dazu befragen.«
»Oh, das macht gar nichts.« Nona lachte. »Fragen wir einfach einen Mann, der auch in Turin dabei war. Festhalten!« Sie zog die Handbremse und riss das Steuer herum. Eine Wende aus voller Fahrt. Das Taxi schleuderte auf die Gegenspur. Sie gab Gas und fuhr mit quietschenden Reifen den Weg zurück, den sie gekommen waren.
»Was soll dieser Mist?!«, beschwerte sich Vince laut. »Wen wollen Sie überhaupt fragen?!«
»Pater Simon.«
»Was?! Der sitzt doch in seiner Kirche in der Bronx!«
»Tut er nicht. Er sitzt in einem Wagen, etwa einen Kilometer entfernt. Sie werden ihn gleich sehen.«
Vince saß auf der Rückbank, hielt sich am
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