Das Jüngste Gericht: Die Wissenschaft der Scheibenwelt 4 (German Edition)
gekrümmt ist; vielmehr ist er irrelevant.
Seinem Biografen Sartorius van Waltershausen zufolge pflegte Gauß dies mithilfe einer Ameise zu erklären, die an die Fläche gebunden ist. Für die Ameise existiert nichts anderes. Wenn sie aber mit einem Bandmaß* [* Bei Gauß kam dieses Messinstrument nicht vor, aber wir wollen nicht päpstlicher sein als der Papst.] auf der Fläche umhergeht, kann die Ameise schlussfolgern , dass ihr Universum gekrümmt ist. Nicht um etwas herum gekrümmt – einfach nur gekrümmt.
Wir alle lernen in der Schule, dass in der Euklidischen Geometrie die Winkelsumme im Dreieck 180° beträgt. Dieses Theorem gilt für eine Ebene, aber nicht für eine gekrümmte Fläche. Beispielsweise können wir auf einer Kugel ein Dreieck bilden, indem wir am Nordpol beginnen, südwärts bis zum Äquator gehen, ein Viertel des Umfangs dem Äquator folgen und dann zum Nordpol zurückkehren. Die Seiten des Dreiecks liegen auf der Kugel auf Großkreisen und sind die natürliche Entsprechung für Geraden, denn es sind auf der Fläche die kürzesten Wege zwischen gegebenen Punkten. Die Winkel des Dreiecks sind alles rechte Winkel: 90°. Also ergeben sie zusammen 270°, nicht 180°. Ganz zu Recht – eine Kugel ist keine Ebene. Aber dieses Beispiel legt nahe, dass wir durch Vermessung von Dreiecken feststellen könnten, dass wir uns nicht auf einer Ebene befinden. Und ebendas besagt das hervorragende Theorem von Gauß. Die Metrik des Universums – die Art, wie sich Entfernungen verhalten, was analysiert werden kann, indem man die Formen und Größen kleiner Dreiecke misst – kann der Ameise exakt sagen, wie gekrümmt ihr Universum ist. Man braucht nur die Messergebnisse in seine Formel einzusetzen.
Gauß war von seiner Entdeckung ungeheuer beeindruckt. Sein Assistent Bernhard Riemann verallgemeinerte die Formel für Räume von beliebiger Anzahl der Dimensionen und eröffnete einen neuen Zweig der Mathematik, die Differenzialgeometrie. Die Krümmung an jedem einzelnen Raumpunkt zu ermitteln, bringt jedoch eine Menge Arbeit mit sich, und die Mathematiker fragten sich, ob es wohl einen einfacheren Weg gebe, an weniger detaillierte Information zu kommen. Sie versuchten eine flexiblere Deutung des Begriffs »Form« zu finden, mit der sich leichter umgehen ließe.
Was sie fanden, wird heute Topologie genannt und führte zu einer qualitativen Beschreibung von Formen, die keine numerischen Messungen erfordert. In diesem Zweig der Mathematik gelten zwei Formen als gleich, wenn die eine durch kontinuierliche Verformung in die andere überführt werden kann. Beispielsweise hat ein Donut (die Sorte mit einem Loch in der Mitte) dieselbe Form wie eine Kaffeetasse. Jeder ist im Grunde ein Klumpen mit einem Henkel, verzerrt. Die topologische Version von »Form« fragt danach, ob das Universum ein kugelförmiger Klumpen wie ein englischer Donut (oder ein deutscher Pfannkuchen) ist oder ein Torus wie ein amerikanischer Donut oder aber etwas Komplizierteres.
Wie sich erweist, kann eine topologisch gebildete Ameise eine Menge über die Form ihrer Welt herausfinden, indem sie geschlossene Schlaufen herumschiebt und sieht, wie sie sich verhalten. Wenn der Raum ein Loch hat, kann die Ameise eine Bindfadenschlaufe hindurchziehen, und es ist unmöglich, die Schlaufe zusammenzuziehen, wenn sie immer auf der Oberfläche bleibt und sie nicht durchdringt. Hat der Raum mehrere Löcher, kann die Ameise unterschiedliche Schlaufen durch jedes Loch ziehen und damit ermitteln, wie viele Löcher es gibt und wie sie angeordnet sind. Und wenn der Raum keine Löcher hat, kann die Ameise jede beliebige geschlossene Schlaufe zusammenziehen, ohne jemals die Oberfläche zu verlassen, bis die ganze Schlaufe an derselben Stelle zusammenkommt.
Ameisenhaftes Denken, welches auf die einem Raum innewohnenden Eigenschaften beschränkt ist, erfordert ein wenig Eingewöhnung, doch anders hat die moderne Kosmologie keinen Sinn, denn Einsteins allgemeine Relativitätstheorie deutet die Schwerkraft neu als Krümmung der Raum-Zeit, wobei sie Riemanns Verallgemeinerung des hervorragenden Theorems von Gauß benutzt.
Bisher haben wir das Wort »Krümmung« in einem lockeren Sinn verwendet. Doch nun müssen wir sorgfältiger sein, denn aus der Sicht einer Ameise ist Krümmung ein diffiziles Konzept, nicht unbedingt das, was wir erwarten würden. Insbesondere würde eine Ameise, die auf einem Zylinder lebt, darauf bestehen, dass ihr Universum nicht gekrümmt ist.
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