Das Jüngste Gericht: Die Wissenschaft der Scheibenwelt 4 (German Edition)
vereinbar ist: eine Hypersphäre. Sie ähnelt einer gewöhnlichen Kugelsphäre, womit Topologen nicht die gesamte Kugel meinen, sondern nur die Oberfläche. Eine Sphäre ist also zweidimensional: Zwei Zahlen genügen, um jeden Punkt auf ihr zu bestimmen. Zum Beispiel die (geografische) Länge und Breite. Eine Hypersphäre ist dreidimensional. Mathematiker definieren eine Hypersphäre, indem sie Koordinatengeometrie verwenden. Leider ist es keine Form, die im gewöhnlichen Raum natürlich vorkommt, daher können wir kein Modell und keine Zeichnung von ihr anfertigen.
Es ist nicht einfach eine massive Kugel – eine Sphäre plus deren Inneres. Eine Sphäre hat keine Grenze, eine Hypersphäre also auch nicht. Die Scheibenwelt zum Beispiel hat eine Grenze, wo die Welt aufhört und der Ozean über den Rand fällt. Unsere sphärische Welt ist anders: Sie hat keinen Rand. Wo immer man steht, kann man in alle Richtungen blicken und Land oder Ozean sehen. Eine Ameise, die durch eine sphärenförmige Welt wandert, trifft auf keine Stelle, an der ihr Universum endet. Dasselbe muss für eine Hypersphäre gelten. Eine massive Kugel aber hat eine Grenze: ihre Oberfläche. Und eine Ameise, die beliebig im Innern einer Kugel umherwandern könnte – wie wir uns durch den Raum bewegen, solange uns nichts in die Quere kommt –, würde das Ende ihres Universums erreichen, wenn sie auf die Oberfläche träfe.
Vorläufig brauchen wir über eine Hypersphäre nur zu wissen, dass sie das natürliche Analogon zu einer Sphäre ist, aber mit einer zusätzlichen Dimension. Um ein genaueres Bild zu erhalten, können wir daran denken, wie eine Ameise sich eine Sphäre vorstellen würde, und alles um eine Dimension hochrechnen – derselbe Trick, den A. Quadrat in Flächenland benutzt. Eine Sphäre besteht aus zwei Hemisphären, die am Äquator zusammengefügt sind. Eine Hemisphäre kann abgeflacht werden, sodass sie eine flache Scheibe bildet: einen Kreis und dessen Inneres, und das ist eine kontinuierliche Deformation. Ein Topologe kann sich eine Sphäre als zwei Scheiben vorstellen, die an den Rändern zusammengeklebt sind. In drei Dimensionen ist die Entsprechung zu einer Scheibe eine massive Kugel. Wir können also eine Hypersphäre bilden, indem wir gedanklich die Oberflächen zweier massiver Kugeln zusammenkleben. Im gewöhnlichen Raum kann man das mit runden Kugeln nicht machen, aber mathematisch können wir eine Regel festlegen, die jeden Punkt auf der Oberfläche der einen Kugel mit dem entsprechenden Punkt auf der Oberfläche der anderen in Beziehung setzt. Dann nehmen wir an, einander entsprechende Punkte seien miteinander identisch, so wie wir die Ränder eines Quadrats »zusammenkleben«, um einen flachen Torus zu erhalten.
Die Hypersphäre spielte eine hervorragende Rolle im Frühwerk Henri Poincarés, eines der Schöpfer der modernen Topologie. Er wirkte um die Wende zum 20. Jahrhundert und war einer der zwei, drei führenden Mathematiker seiner Zeit. Er war dicht daran, Einstein mit der speziellen Relativitätstheorie zuvorzukommen.* [* Manche Mathematiker glauben, er sei ihm tatsächlich zuvorgekommen, die Physiker hätten es nur nicht bemerkt, weil er kein Physiker war.] In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts schuf Poincaré viele von den grundlegenden Werkzeugen der Topologie. Er wusste, dass Hypersphären eine fundamentale Rolle in der dreidimensionalen Topologie spielen, so wie Sphären es in der zweidimensionalen tun. Insbesondere hat eine Hypersphäre keine »Löcher« analog zum Loch in einem Donut, also ist sie in gewissem Sinn der einfachste dreidimensionale topologische Raum. Poincaré nahm ohne Beweis an, auch die Umkehrung sei wahr: Ein dreidimensionaler topologischer Raum ohne Löcher müsse eine Hypersphäre sein.
1904 entdeckte er jedoch eine kompliziertere Form, den Dodekaeder-Raum, der keine Löcher hat, aber keine Hypersphäre ist. Seine Annahme war falsch. Dieser unerwartete Rückschlag veranlasste ihn, eine weitere Bedingung hinzuzufügen, die – so hoffte er – die Hypersphäre vollständig charakterisieren würde. In zwei Dimensionen ist eine Oberfläche immer dann und nur dann eine Sphäre, wenn jede Schlaufe zusammengezogen werden kann, bis sie sich am selben Punkt sammelt. Poincaré vermutete, dieselbe Eigenschaft sei in drei Dimensionen für eine Hypersphäre charakteristisch. Er hatte recht, doch die Mathematiker brauchten fast ein Jahrhundert, um es zu beweisen. 2003 gelang es einem jungen
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