Das Jüngste Gericht: Die Wissenschaft der Scheibenwelt 4 (German Edition)
Von außen betrachtet mag ein Zylinder wie ein aufgerolltes Blatt Papier aussehen, aber die Geometrie kleiner Dreiecke ist auf einem Zylinder exakt die gleiche wie auf einer euklidischen Ebene. Beweis: Man entrollt das Papier. Strecken und Winkel, innerhalb des Papiers gemessen, ändern sich nicht. Eine Ameise, die auf einem Zylinder lebt, würde ihn also für flach halten.
Mathematiker und Kosmologen stimmen der Ameise zu. Dennoch unterscheidet sich ein Zylinder in mancher Hinsicht definitiv von einer Ebene. Wenn die Ameise an einem Punkt beginnt und in der richtigen Richtung losgeht, dabei einer aus ihrer Sicht geraden Linie folgt, dann gelangt sie nach einiger Zeit wieder an den Ausgangspunkt. Die Linie läuft rund um den Zylinder und kehrt in ihren Ursprung zurück. Das ist bei einer geraden Linie in einer Ebene nicht möglich. Das ist ein topologischer Unterschied, und die Gauß’sche Krümmung kann ihn nicht feststellen.
Wir erwähnen den Zylinder, weil er allgemein bekannt ist, aber auch weil er einen wichtigen Vetter hat, der flacher Torus genannt wird – streng genommen ein Widerspruch in sich selbst, denn ein Torus ist wie ein Donut mit einem Loch geformt, und der ist schön gekrümmt. Der Name hat aber trotzdem Sinn. Metrisch betrachtet ist der Raum flach, keine Krümmung – topologisch ist es ein Torus. Um einen flachen Torus herzustellen, kleben wir sinngemäß die jeweils gegenüberliegenden Seiten eines Quadrats aneinander, und Quadrate sind flach. Diese Konstruktion ist in der Art analog, wie Computerspiele die gegenüberliegenden Ränder eines Bildschirms miteinander verbinden, sodass das Monster oder das außerirdische Raumschiff, wenn es über einen Rand hinaus verschwindet, am gegenüberliegenden Rand sofort wieder auftaucht. Spieleprogrammierer nennen das »Herumwickeln«, weil es sich so anfühlt – man sollte es allerdings nicht buchstäblich ausprobieren, sonst könnte der Bildschirm zu Bruch gehen. Topologisch gesehen macht die Verbindung der senkrechten Ränder aus dem Zylinder einen Torus. Wenn man danach die waagrechten Ränder herumwickelt, verbindet man die Enden des Zylinders miteinander und bekommt einen Torus. Nun gibt es keinen Rand mehr, und die Außerirdischen können nicht entkommen.
Der flache Torus ist der einfachste Fall einer allgemeinen Methode, die von Topologen verwendet wird, um aus einfacheren Räumen komplizierte Räume zu erzeugen. Man nimmt eine oder mehrere einfache Formen, dann »klebt« man sie zusammen, indem man die Regeln auflistet, nach denen welches Stück wo befestigt wird. Es ist wie bei flach verpackten Möbeln: eine Menge Teile und Anweisungen wie »Stecken Sie Brett A in den Schlitz B«. Aber mathematisch gesehen braucht man nur die Teile und die Liste – man muss das Möbel nicht wirklich zusammenbauen . Stattdessen überlegt man sich, wie es sich verhielte, wenn man es getan hätte.
Bevor die Menschheit die Raumfahrt erfand, war sie in Bezug auf die Gestalt der Erde in der gleichen Lage wie die Ameise. Bezüglich der Gestalt des Universums sind wir immer noch in der gleichen Lage. Wie die Ameise können wir trotzdem diese Gestalt schlussfolgern, indem wir geeignete Beobachtungen machen. Beobachtungen allein genügen jedoch nicht, wir müssen sie auch im Kontext einer widerspruchsfreien Theorie über die allgemeine Natur der Welt interpretieren. Wenn die Ameise ihre eigene Oberfläche nicht kennt, nutzt ihr die Gauß’sche Formel nicht viel.
Gegenwärtig ist der Kontext die allgemeine Relativitätstheorie, die die Gravitation in Begriffen einer Krümmung der Raum-Zeit erklärt. In einem flachen Gebiet der Raum-Zeit bewegen sich Teilchen auf Geraden, wie sie es auch in der Newton’schen Physik täten, wenn keine Kräfte wirken. Wenn die Raum-Zeit verformt ist, bewegen sich Teilchen auf gekrümmten Bahnen, was in der Newton’schen Physik ein Anzeichen für die Wirkung einer Kraft wäre – etwa der Gravitation. Einstein hat die Kräfte verworfen und die Krümmung beibehalten. In der allgemeinen Relativitätstheorie krümmt ein massereicher Körper wie ein Stern oder ein Planet die Raum-Zeit; Teilchen weichen wegen der Krümmung vom geraden Wege ab, nicht wegen einer auf sie einwirkenden Kraft. Will man die Gravitation verstehen, sagte Einstein, muss man die Geometrie des Universums verstehen.
In der Frühzeit der allgemeinen Relativitätstheorie entdeckten die Kosmologen eine sinnvolle Form für das Universum, die mit der Relativitätstheorie
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