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Das juengste Gericht

Das juengste Gericht

Titel: Das juengste Gericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Scheu
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besserer Gelegenheit.« Schultz verließ das Zimmer des Behördenleiters, durchschritt das Vorzimmer von Frau Bruns und betrat den Flur des L-förmigen Gebäudes. Er suchte den längeren Flügel auf, der im rechten Winkel nach links abbog. Die architektonische Gleichförmigkeit hätte es ihm bei seinem mangelhaften Orientierungssinn kaum ohne ständiges Schauen nach den Türschildern erlaubt, sein Dienstzimmer aufzufinden. Als Eselsbrücke hatte er sich jedoch gemerkt, dass es das erste Zimmer rechts nach der Feuerschutztür, die den Gang in zwei gleiche Hälften teilte, sein musste.
    Bereits vor der Tür des Dienstzimmers mit der Nummer 320 roch es nach Kaffee. Schultz freute sich darüber. Mit Schwung öffnete er die Tür und sah hinter dem linken der beiden gegeneinandergerückten Schreibtische seinen jungen Kollegen Augustin Diener sitzen, der, über einer Akte brütend, seine halblangen blonden Haare nach hinten warf und in Gedanken verloren zu ihm aufschaute. Aus den Augenwinkeln stellte Schultz fest, dass der Inhalt des Bilderrahmens auf Dieners Schreibtisch wieder einmal gewechselt hatte und heute eine lächelnde Blondine zeigte.
    »Schön, dass du da bist und Kaffee gekocht hast, Augustin. Ich hatte schon befürchtet, dass du aus irgendeinem Grund außer Haus wärst.«
    »Wenn du pflichtbewusst wie unsereiner um halb neun Uhr in der Behörde gewesen wärest, hätte ich dir mitteilen können, dass ich nach dem Stand von heute Morgen nur einen Nachmittagstermin im Gerichtsmedizinischen Institut wahrnehmen muss. Wie üblich glänzte jedoch mein lieber Mitstreiter durch Abwesenheit.« Schultz lächelte. Er schätzte den rund zehn Jahre jüngeren Diener wegen seiner unkonventionellen Art, seines hohen Intellekts und seines Einfallsreichtums. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass er diesen begabten Kollegen zeitweise ausgebildet und gegengezeichnet hatte. Berufsanfänger durften in den ersten drei Monaten noch nicht selbst unterschreiben. Wegen der herausragenden Fähigkeiten von Diener war diese Frist auf Vorschlag von Schultz halbiert worden.
    Diener legte den Kugelschreiber zur Seite. Mit der Hand dehnte er den engen Rundkragen seines dunkelblauen Sweatshirts, das auf der Brust den knallroten Namenszug Lee Est.
    1889 trug. »Erzähle. Was hat er gesagt.«
    Währenddessen war Schultz zum Schrank gegangen, hatte seinen schwarzen Kaffeebecher mit der weißen Aufschrift Boss herausgeholt und hielt ihn Diener entgegen. »Gib mir bitte erst einmal einen Kaffee. Dann berichte ich dir.«
    Schultz setzte sich in seinen Sessel, nahm eine Partagas heraus, kerbte das Mundstück mit einem kleinen Taschenmesser ein und zündete die Zigarre mit einem Streichholz an. Dann streckte er die Hand aus und nahm von Diener den Boss -Becher entgegen.
    »Was soll er gesagt haben? Ich bekomme die Stelle nicht. Das Ministerium hat gegen mich entschieden.«
    »Wundert dich das? Mich nicht. Du bist nominelles SPD-Mitglied, wenn auch dein Gedankengut häufiger einem Kontrastprogramm ähnelt. Unsere Landesregierung hat zurzeit nicht deine Farben.«
    »Das siehst du falsch, Augustin. Bei der Besetzung der Stelle für einen Oberstaatsanwalt stellt man in Wiesbaden noch nicht auf die politische Einstellung des Bewerbers ab. Das beginnt erst bei höheren Positionen. Außerdem, aber das musst du für dich behalten, hat der Staatssekretär unserem Chef gesagt, dass ich die nächste frei werdende Stelle so gut wie sicher habe.«
    »Warten wir es ab. Ich würde es dir von Herzen gönnen.«
    »Der Chef hat mir außerdem gesagt, dass ich jetzt mehr in Vertretungen von abwesenden Abteilungsleitern eingebunden werde, um Pluspunkte zu sammeln. Ich habe ab heute schon die Vertretung des Leiters der Abteilung IX.«
    »Jetzt verstehe ich. Die Kripo hat mich offenbar heute Vormittag gar nicht wegen meines Bereitschaftsdienstes angerufen. Die wussten vielmehr schon von deiner neuen Aufgabe. Wahrscheinlich waren sie durch das Vorzimmer unserer Vizechefin informiert. Der Abteilungsleiter IX soll doch tagsüber als Erster von der Auffindung einer Leiche unterrichtet werden, wenn der Verdacht eines unnatürlichen Todes nicht einwandfrei ausgeschlossen werden kann. Der Anruf galt eigentlich dir.«
    »Das kann sein. Was ist denn vorgefallen?«
    Diener stand auf, stemmte seine Hände in die Hüften und streckte seinen schlanken, sportlichen Körper ein paar Mal nach hinten. Tatsächlich wollte er nur ein wenig Zeit gewinnen, um eine geeignete Formulierung zu finden, wie

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