Das juengste Gericht
er Schultz den Sachverhalt näherbringen sollte. Bei mehreren früheren Gelegenheiten hatte er feststellen müssen, dass Schultz mit Berichten über tote Kinder nicht gut umgehen konnte. Wie Diener wusste, hatte Schultz seine einzige Tochter im Kindesalter durch Leukämie verloren. Tote Kinder stellten seitdem ein Tabuthema dar. Diener lief in dem kleinen, mit Büromöbeln vollgestopften Zimmer auf und ab. Dann sah er Schultz in die Augen. »Ich bin schon vom vielen Sitzen ganz steif, Hanspeter. Leider kann ich es dir nicht ersparen, alte Wunden aufzureißen. Es gibt eine neue Leichensache mit einem Mädchen. Wie mir das K 11 mitteilte, ist sie aus dem achten Stock über die Brüstung der Zeilgalerie auf das Straßenpflaster gefallen. Es ist unklar, ob sie gesprungen ist oder ob jemand nachgeholfen hat.«
Der Gesichtsausdruck von Schultz nahm starre Züge an. Er zog die Augenbrauen hoch und zuckte die Schultern. »Hat die Kripo einen Verdacht?«
»Nein. Bisher nicht. Ich habe zunächst einmal wegen der Eilbedürftigkeit der Sache die Obduktion angeordnet. Die Kripo hat unmittelbar danach mit dem Gerichtsmedizinischen Institut telefoniert, um möglichst rasch eine Klärung herbeizuführen. Wie mir Köhler am Telefon mitteilte, hat ihn Frau Dr. Lubitsch kurz danach zurückgerufen und ihm gesagt, dass das Kind um 15:30 Uhr obduziert werden soll. Ich hoffe, dass ich mit meiner Anordnung in deinem Sinne gehandelt habe. Jedenfalls gehe ich hin und nehme an der Obduktion teil. Im Anschluss daran werde ich dich über das Ergebnis unterrichten. Im Übrigen bin ich hundemüde.«
Schultz paffte an seiner Zigarre und trank einen Schluck Kaffee. »Weibergeschichten?«
»Auch. Aber wie ich schon sagte, habe ich die ganze Woche Bereitschaftsdienst. Heute Nacht rief mich erst die Autobahnpolizei an und wollte von mir die Festsetzung einer Sicherheitsleistung, weil ein Ausländer einen Unfall gebaut hatte, aber weiter in sein Heimatland fahren wollte. Das habe ich noch ertragen, weil der Hinweis auf meine Unzuständigkeit länger als die Entscheidung gedauert hätte, die sich erledigte, weil der Ausländer sowieso kein Geld dabei hatte. Dann rief mich eine Stunde später die Kripo wegen eines Ladendiebstahls vom Vorabend an und fragte, ob sie den Beschuldigten, einen wohnsitzlosen Erwachsenen, dem Haftrichter vorführen sollte. Denen habe ich erklärt, dass ich nicht zuständig sei. Daraufhin rief mich nochmals eine gute Stunde später der Vorgesetzte an, um sich zu entschuldigen. Da war die Nacht herum. Jetzt verstehst du, warum ich müde bin.«
Schultz musste lachen.
4. Kapitel
»Krawinckel«, dröhnte es aus dem Hörer des Mobiltelefons in das Ohr von Sunitas Adoptivvater Wolfgang Beuchert.
Beuchert saß voll angekleidet in dunkelblauem Anzug, weißem Hemd und dunkelroter, in sich gemusterter Krawatte auf der Toilettenbrille in einem der Bäder seines am Feldrand in der Nordweststadt Frankfurts gelegenen geräumigen Bungalows. Hierher hatte er sich zurückgezogen, um eine Weile seine Ruhe vor seiner ständig an ihm herumnörgelnden Frau zu haben. Die Nummer von Phillips privatem Mobiltelefon hatte er auswendig gewusst. Er atmete tief ein. »Hallo, Phillip. Ich bin es. Hast du zwei Minuten Zeit für mich?«
»Guten Tag, Wolfgang. Das muss irgendwie Gedankenübertragung gewesen sein. Vor ein paar Minuten haben Ellen und ich unsere heutigen Gäste verabschiedet. Ich sitze im Auto und bin ganz in deiner Nähe. Gerade wollte ich anrufen und fragen, ob Sunita vielleicht Lust hat, mit mir einen kleinen Einkaufsbummel zu machen. Ich bin schon auf der Höhe der Wohnblocks vor dem Nordwest-Einkaufszentrum. Hast du etwas Besonderes auf dem Herzen, weshalb du mich anrufst?«
Beuchert drückten schwere Geldsorgen, die ihn während der vergangenen Nacht fast durchgängig wach gehalten und beschäftigt hatten. In der linken Hand, die auf seinem hervorquellenden Bauch ruhte, hielt er sein Mobiltelefon. Mit der anderen Hand wischte er sich mehrmals den Schweiß aus dem Gesicht und fuhr sich anschließend leicht zitternd durch das nach hinten gekämmte volle schwarz-graue Haar. Mehrfach musste er seine schwarze Hornbrille mit dem Zeigefinger den Nasenrücken hochschieben, weil sie auf dem nassen Gesicht ständig rutschte. Zu dumm, dass er heute Morgen auf der Fahrt in die Innenstadt sein Mobiltelefon vergessen hatte. Von unterwegs hätte er
anrufen können, ohne dass seine Frau mithörte.
Er musste wirklich schon wieder Phillip
Weitere Kostenlose Bücher