Das juengste Gericht
Dienerschaft sah er ebenfalls niemanden. Missgelaunt überlegte er, was er mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte.
Er ging durch die Tapetentür nach draußen und kehrte nach wenigen Minuten zurück, mit Lisa-Marie an der Hand.
»Komm, setz dich zu mir, mein Schatz. Erzähle mir, was du heute alles erlebt hast. Ich bin schon sehr gespannt. Oder warte. Ich gehe schnell zur Küche und hole jedem von uns eine Cola. Das ist doch dein Lieblingsgetränk. Du kannst ruhig noch ein Glas trinken und wirst trotzdem gut schlafen.«
Er verließ den Raum.
Lisa-Marie schaute sich in dem Salon um, als habe sie ihn zum ersten Mal betreten. Sie setzte ein Lächeln auf, das von sehr weit
herzukommen schien. Mit den Handflächen strich sie mehrmals das kurze weiße Spitzenkleid glatt, das eng an ihrem Körper saß. Plötzlich klatschte sie in die Hände und lachte laut auf. Sie stellte sich auf ihre nackten Fußzehen und begann, sich in atemberaubender Geschwindigkeit zu drehen. Dabei stieß sie fortwährend spitze Schreie aus. Nach einer Vielzahl von Drehungen auf engstem Raum kam sie ins Taumeln und ließ sich in einen
Zweisitzer fallen.
Sie zog ihre Beine an ihren Körper. Ihre Brust hob und senkte sich rhythmisch. Ihr Atem ging heftig. Sie keuchte und prustete. Krawinckel kam hinzu und stellte die Cola auf einem Tischchen neben ihr ab. »Da komme ich ja genau richtig. Hast du dich
schön ausgetobt, Lisa-Marie?«
Sie nickte, trank das halbe Glas leer, stand auf und fiel Krawinckel um den Hals. Mit verschränkten Armen klammerte sie sich an ihn und drückte ihm zwei feste Küsse auf jede Wange.
Vor Vergnügen blubberte sie. Anschließend versuchte sie, ihn mit ruckartigen Bewegungen auf den Zweisitzer zu ziehen. Er rutschte aus und fiel auf die Knie.
Im Bruchteil einer Sekunde wechselte ihr Gesichtsausdruck. Sie erschrak, riss bei offenem Mund die Augen auf und setzte sich mit langsamen Bewegungen hin. »Das hat Lisa-Marie nicht gewollt.« Krawinckel stemmte sich hoch, nahm neben ihr Platz und legte ihr den Arm um die Schultern. »Das weiß ich doch, meine
Kleine. Nun erzähle mir mal, was heute so alles los war.«
Sie kuschelte ihren Kopf an seinen Arm. »Lisa-Marie hat dich ganz doll lieb, Phillip.«
Er lächelte und streichelte ihr über die Wange. »Das macht mich sehr froh, mein Schatz. Und was hat nun mein Schwesterchen heute so alles angestellt?«
Lisa-Marie sprang mehrmals hintereinander hoch und ließ sich in die Polster fallen. Die Arme breitete sie dabei weit aus und schlug sie immer wieder vor der Brust zusammen. Plötzlich traf sie mit der Hand das Glas Cola. Es fiel zu Boden. Die Flüssigkeit ergoss sich über den Teppich. Sie stutzte und gab einen gurgelnden Laut von sich. Anschließend klatschte sie in die Hände und sang. »Leise rieselt der Schnee ...«
Phillip Krawinckel ließ das vergossene Getränk unbeeindruckt. Das mochte Mike Kellermann später wegräumen und aufputzen. »Du hast gar nicht so unrecht, Lisa-Marie. Noch ein paar Grad weniger und es ist tatsächlich so weit. Was hast du außer singen noch getan? Hast du getanzt oder Bilderbücher geblättert? Egal! Worauf hast du jetzt Lust. Wollen wir etwas spielen? Vielleicht Ich weiß etwas, was du nicht weißt? Dabei könnte jeder von uns dem anderen erzählen, welche Geheimnisse er erfahren hat. Wäre das nicht ein tolles Spiel für uns?«
Sie schaute in den Deckenleuchter, ließ ihren Kopf kreisen und klimperte mit den Augenlidern. »Lisa-Marie hat dich wirklich ganz doll lieb.«
Krawinckels Gesichtszüge wurden ernst. Er fuhr ihr über das Haar. Eine einzelne Träne konnte er nicht zurückhalten. Sie rollte ihm über die Wange auf die Brust. Er wischte sich über das Gesicht, trocknete seine Hand am Polster und ergriff LisaMaries Hände. »Das ist wunderbar, mein Schatz. Ich dich doch auch. Nicht wahr, das weißt du? Wen hast du denn noch alles lieb? Und wen hast du nicht so lieb?«
Sie befreite ihre Hände aus den seinen, faltete sie und drehte die Daumen umeinander. »Die Ellen nicht so. Ein bisschen! Und den Mike. Der ist lieb. Und den Rainer. Der ist lieb. Und den Onkel Wolfgang. Der ist ganz doll lieb. Die Sunita auch.«
Der Gesichtsausdruck von Krawinckel verhärtete sich. »LisaMarie! Wir hatten doch gesagt ...«
Lisa-Marie sprang wieder auf der Couch hoch. Sie stellte sich vor Krawinckel, verwuschelte ihm die Haare und setzte sich rittlings auf seinen Schoß. »Lisa-Marie hat alle lieb, alle lieb.«
Die Miene von
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