Das juengste Gericht
nahm seinen Arm, legte ihn um sich und kuschelte sich fest gegen seinen Körper. »Lass uns über andere Dinge reden. Wir haben so wenig Zeit für uns alleine.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Wenn ich mich an die Zeit erinnere, bevor ich dich kennen lernte, wachen die alten Ängste wieder auf, die mich Tag und Nacht begleitet haben. Die schlimmen Erlebnisse in meiner Familie sind Vergangenheit, weil du mich zu dir geholt hast.« Ein Schauer überflog ihren Körper. »Noch heute träume ich manchmal von dem Heim, in das mich mein Vater gesteckt hatte, um mich los zu sein. Am schlimmsten war damals Weihnachten. Alle anderen Kinder waren am Tag vorher von Familienangehörigen oder anderen fröhlichen Menschen abgeholt worden. Ich hatte auf gepackten Koffern gesessen und Stunde um Stunde gewartet. Mein Vater hatte mir fest versprochen zu kommen. Er hat nicht einmal angerufen. Ich war alleine zurückgeblieben, als einziges Kind in dem ganzen Heim.« Sie schmiegte ihren Kopf fest an seinen Hals. »Das Gefühl von Geborgenheit und meine innere Zufriedenheit sind das Ergebnis meiner Verbindung zu dir. Ich würde alles tun, um dich glücklich zu machen. Du bist mein Leben. Ich liebe dich, Phillip. Alles andere auf der Welt ist mir gleichgültig.«
Mit einem kurzen Blick stellte Phillip Krawinckel sicher, dass sein farbloser Nagellack noch nicht abblätterte. Er fuhr ihr mit der Hand in den Kragen ihres roten Kleides und krabbelte mit den Fingernägeln über ihren Rücken. Sie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihr Gesicht fest gegen seine Wange. Tränen gruben leichte Rinnen in ihr Make-up und liefen den Hals herunter in ihren Ausschnitt.
Phillip presste sie an sich. Er strich ihr die blonden Locken zurück, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und trocknete ihr die Tränen. Sie rollte sich zusammen und rutschte auf seinen Schoß. »Glaubst du mir, Phillip? Ich liebe dich wirklich. So, wie ich noch nie einen Mann geliebt habe und nie wieder einen lieben werde.«
Ellen sah ihn aus verweinten Augen an. Er erfasste ihr Kinn und beugte sich über ihr Gesicht. Dabei ließ er seine Hand mit langsamer Bewegung in ihren Ausschnitt gleiten. »Wollen wir ...«
Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Wir wissen beide, wie das ausgeht. Hinterher bist du wieder tief enttäuscht und deprimiert. Lass uns hier so bleiben, wie wir gerade sind. Es ist einfach wunderschön. Mir fehlt es an nichts. An gar nichts.«
»Ich hasse mich und dieses Leben voller Depressionen und Zwänge, denen man nicht entrinnen kann, die einen immer und immer wieder einholen.« Er legte ihr seinen Zeigefinger auf die Lippen. Als sie erneut anheben wollte zu sprechen, verschloss er ihren Mund mit einem langen Kuss. Anschließend führte er ihren Kopf auf seine Brust zurück und sah ihr mit ernstem Gesichtsausdruck lange in die Augen. »Ich liebe dich auch, kleines Mädchen. Vergiss das nie.«
Erneut umarmte er sie und gab ihr eine Reihe von Küssen über das gesamte Gesicht. Sie ließ sich in seine Arme fallen und lachte auf.
Unbemerkt von Ellen und Phillip Krawinckel rutschte die Tapetentür mit einem leisen schleifenden Geräusch ins Schloss.
18. Kapitel
Der Montagmorgen des 6. November entwickelte sich von Beginn an für den baumlangen Portier vor dem Arabella Grand Hotel in der Konrad-Adenauer-Straße zu einer echten Herausforderung. Mehrfach musste er das Kunststück fertig bringen, mit einer Hand den zu seiner Livree gehörenden grauen Zylinder festzuhalten und mit einem übergroßen grünen Hotelschirm in der anderen Hand einen mit dem Taxi vorgefahrenen Gast trocken aus dem Auto bis in die Lobby zu begleiten. Immer wieder trieb ihn der scharfe kalte Wind, der ständig die Richtung wechselte, zu Höchstleistungen an. Jedes Mal verfluchte er die Ungerechtigkeit des Schicksals, die ihn bei mäßigen Trinkgeldern zum Schirmhalter degradiert hatte. Auch der Umstand, dass die übrigen umherirrenden Passanten im Vergleich zu ihm einen aussichtslosen Kampf mit ihren Regenschirmen führten, weil alle Billigversionen kurz nach dem Öffnen abknickten, konnte ihn nicht trösten.
Hanspeter Schultz stand am Fenster seines Dienstzimmers. Er war eben ins Büro gekommen. Ohne innere Anteilnahme sah er dem Treiben vor dem gegenüberliegenden Hotel zu. Es gelang ihm nicht, darüber zu lachen. Die milchige Dunstglocke, die über der Frankfurter Innenstadt lag und ab dem zehnten Stockwerk den basaltgrauen Stelengarten der Hochhäuser
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