Das juengste Gericht
restaurierte Wandmalereien und Fußbodenintarsien bei geöffneten Flügeltüren die Aufmerksamkeit auf sich zog und das Prunkstück des klassisch geordneten Baus des 19. Jahrhunderts im Stil der italienischen Renaissance darstellte.
Im kleinen Sitzungssaal traf er seine Kollegen wieder, die an einem ovalen Tisch Platz genommen hatten. Hübsch stellte gerade Nüchtern die beiläufige Frage, warum sein Chef nicht mitgekommen sei. Mit der Antwort konnte er nicht viel anfangen, weshalb er lächelnd konstatierte, der Generalstaatsanwalt habe wohl befürchtet, dass etwas gegen ihn vorliege.
Hübsch und Beilstein steckten sich eine Zigarette an. Nüchtern zeigte durch Naserümpfen sein Missfallen, sagte jedoch nichts.
Schultz bedeutete Beilstein, dass er zwei Türen weiter den Kollegen Nachtigall aufsuchen wolle. Beilstein nickte nur und flüsterte Hübsch etwas zu.
Auf dem Weg zu Thilo Nachtigall musste Schultz lachen, weil er immer Gefahr lief, diesen bei seinem Spitznamen »Mauersegler« anzusprechen. Nachtigall war Junggeselle und hatte es deshalb nie eilig gehabt, nach Hause zu kommen. Gelegentlich übernachtete er in der Behörde. Dabei war er einmal gesehen worden, wie er spät abends, nur mit einem getigerten Slip bekleidet, mit Seife und Handtuch in der Hand auf dem dunklen Flur mit schnellem Schritt an der Wand entlang schleichend die Waschräume aufgesucht hatte. Der heimliche Beobachter hatte ihm dann den Spitznamen gegeben, der im Kollegenkreis mit Gelächter aufgenommen worden war.
Auf das Klopfen von Schultz an der weiß lackierten Tür geschah eine ganze Weile nichts. Nach geraumer Zeit vernahm er eine dunkle Stimme mit einem gedehnten »Herein!« Schultz öffnete und erkannte im dämmrigen Licht hinter der Billigausführung eines Kunstholzschreibtischs seinen Kollegen Nachtigall. Der sprang sofort auf, ging auf Schultz zu, umarmte ihn und bat ihn, Platz zu nehmen. Mit ausgebreiteten Armen bot er ihm einen Kaffee an und behielt zunächst diese Haltung bei. Damit erfüllte er rein äußerlich sämtliche Voraussetzungen für die Übertragung der Rolle des Rodolfo in Puccinis »La Bohème«. Seine gelockten dunklen Haare, der leichte Glatzenansatz, die mittelgroße füllige Figur und der dunkelbraune Cordanzug mit dem wollweißen Rollkragenpullover entsprachen der Klischeevorstellung des italienischen Heldentenors.
Schultz setzte sich auf den einzigen Stuhl gegenüber von Nachtigalls Schreibtisch, ließ sich mit dampfendem Kaffee bedienen, griff nach einer Zigarre und warf seinem Kollegen einen fragenden Blick zu.
Nachtigall winkte ab. »Klar kannst du rauchen. Ich habe zwar vor drei Jahren nach mehreren vergeblichen Anläufen endgültig aufgehört, trotzdem stört es mich nicht, wenn andere qualmen. Ich gehöre nicht zu den Konvertierten, die päpstlicher als der Papst werden.« Er nahm hinter dem Schreibtisch Platz, stützte seine Ellenbogen auf die Platte, das Kinn auf die Fäuste und fixierte Schultz. »Schön, dass wir uns mal wieder begegnen. Jetzt erzähle mal. Was führt dich her?«
Mit geübten Handgriffen zündete sich Schultz eine Zigarre an.
»Das ist schnell gesagt. Ich darf der Ministerin vortragen. Wir sitzen schon alle drüben im kleinen Saal. Es gibt offenbar Terminprobleme.«
»Das ist so üblich. Da alle Minister, gleich welcher politischen Farbe, jeden Kleintierzüchterverein besuchen wollen, kommt der Kalender jeden Tag durcheinander. Man will damit auch noch den letzten potentiellen Wähler erreichen. Es fehlt an der Einsicht, was dadurch alles an wirklich wichtigen Entscheidungen verloren gehen kann. Das Thema ist ein weites Feld.«
»Warum wehrt ihr euch nicht?«
»Wie denn? Und warum? Minister und ihre Vertreter, die Staatssekretäre, belächeln oder verachten uns zwar als kleinkarierte engstirnige Beamte. Sie brauchen uns aber für die Sachauskünfte zu den unzähligen Neuerungen, mit denen sie der Gesellschaft ihren individuellen persönlichen Stempel aufdrücken und sich für die Ewigkeit empfehlen wollen. Und für die Stellungnahmen zu allen Sachfragen, mit denen sie ihre inhaltlichen Informationen zu allen anstehenden Themen bekommen.«
Schultz runzelte die Stirn. »Sag mal, Thilo, du bist doch schon viele Jahre in diesem Haus. War das denn immer so? Auch als unsere von der SPD an der Regierung waren?«
»Es gab durchaus Unterschiede. Da könnten wir einen Abend lang bei ein paar Glas Wein darüber quatschen. Lassen wir das. Erzähle mir lieber, in welch bedeutender
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