Das juengste Gericht
die Ellenbogen auf den Tisch, stützte seinen Kopf in den Händen ab und zog die linke Augenbraue nach oben. »Tut mir leid für Sie. Diese Idee ging völlig daneben.«
Dieners kokettes Lächeln verunsicherte Ellen Krawinckel vollends. Sprachlos starrte sie ihn an. Im gleichen Augenblick stand Diener auf, öffnete die Tür seines Dienstzimmers bis zum Anschlag und setzte sich wieder hin. »Sie werden verstehen, Frau Krawinckel. Unangebrachte Bemerkungen erfordern unübliche Gegenmaßnahmen. Ich will nicht unhöflich sein. Seien Sie froh, dass ich bereit bin, den Vorfall zu ignorieren. Ich könnte ebenso gut einen Aktenvermerk schreiben und ein Verfahren gegen Sie einleiten. Die Dinge müssen nicht eskalieren. Wir sollten wie zivilisierte Mitteleuropäer miteinander umgehen.«
Ellen Krawinckel erhob sich. Ihre metallische Stimme klang jetzt schnippisch. »Einen Moment lang habe ich Ihnen tatsächlich den Homo abgenommen. Wir würden gut zueinander passen, finden Sie nicht? Vielleicht überlegen Sie es sich noch. Ich rufe Sie in zwei oder drei Stunden an. Bis dahin werden Sie wohl die Akten durchgesehen haben. Wir können uns dann gerne wieder treffen. Auf neutralem Boden, damit Sie keine Angst vor mir haben müssen.«
Bevor Diener entschieden hatte, ob er aufstehen und sie bis zum Fahrstuhl begleiten sollte, war sie verschwunden. Diener schloss die Tür und holte tief Luft. Er holte sich die Akte Beuchert und nahm wieder Platz.
Als Nächstes rief er Schreiner an. Er berichtete ihm von dem Besuch Ellen Krawinckels, verschwieg aber deren persönliche Bemerkungen. Anschließend schilderte ihm Schreiner den Stand des Verfahrens. Er hatte sich die polizeilichen Kopien gezogen und wies Diener auf die wesentlichen Seiten hin. »Was Sie jetzt noch nicht haben, sind die Vermerke über unser neuerliches Gespräch im Hause Beuchert. Wir waren am vergangenen Freitag dort. Das wird auch der Auslöser für den Besuch von Frau Krawinckel bei Ihnen gewesen sein.«
»Hat die Befragung der Eheleute Beuchert zu neuen Erkenntnissen geführt?«, fragte Diener.
»Kollege Köhler und ich waren hauptsächlich wegen der Fotos dort, die Krawinckel von Sunita gemacht haben will. Sie könnten etwas mehr Aufschluss über den Charakter des Mädchens geben, der teilweise als still und zurückgenommen, zum Teil aber auch als frühreif und berechnend geschildert wird. Manchmal erkennt man den einen oder anderen Wesenszug auch auf einem Foto. Krawinckel hat in seiner Vernehmung von einer großen Zahl gesprochen, die er Sunita auf Disketten übertragen habe. Der Adoptivvater von Sunita wusste lediglich von einer Hand voll Bilder. Er hat sie auf unsere Bitten aus dem Schrank von Sunita geholt und uns überlassen. Disketten konnte er nicht auffinden. Natürlich haben wir auch unauffällig überprüft, wie es um das Alibi von Krawinckel bestellt ist. In seiner Vernehmung hatte er betont, dass er zu der Zeit, als Sunita starb, bei Beucherts gewesen sei. Es trifft zu, dass er mit Beucherts zusammensaß, als die Kollegen sich dort gemeldet und den Tod von Sunita mitgeteilt haben. Nach einer Bemerkung der Eheleute war er kurz vorher gekommen. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass er aus der Stadt dorthin fuhr, nachdem er Sunita umgebracht hatte.«
»Hochinteressant. Nochmals zu den Fotos. Was lesen Sie über Sunita aus den Bildern?«
»Das ist schwer zu sagen. Tatsächlich ist sie stark geschminkt. Andererseits verrät das nichts darüber, ob sie diese Aufmachung wirklich aus eigenem Antrieb gewählt hat. Fest steht, dass sie auf allen Fotos sehr ernst schaut. Man könnte sogar sagen, dass sie traurig aussieht.«
»Ich würde mir das gern selbst ansehen, um mir einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Könnten Sie mir die Bilder vorbeibringen?«
»Das geht in Ordnung. Ich bin in einer knappen Stunde bei Ihnen.«
***
Die Tür flog auf, und Schultz trat ins Zimmer. Er legte seine brennende Zigarre in den Aschenbecher und ließ sich in seinen Sessel fallen. »Da bin ich.«
Mit verstörter Miene schaute ihn Diener an. »Das sehe ich. Was soll das heißen? Ich denke, du hast Urlaub und bist bei deiner Frau im Krankenhaus.«
Die hilflose Geste von Schultz sprach Bände. »Was hätte ich dort jetzt noch gesollt. Traudel ist mit einer Spritze ruhig gestellt und auf die Operation vorbereitet worden. In etwa einer Stunde wird es so weit sein. Mir wäre beim Anstarren der weiß gekalkten Wände nur die Decke auf den Kopf gefallen. Hier kann ich mich
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