Das juengste Gericht
man ihn verdächtigt, muss ich befürchten, dass er sich umbringt.«
»Ihre Bitte überfordert mich im Augenblick, Frau Krawinckel«, sagte Diener. »Wie ich Ihnen sagte, vertrete ich Herrn Schultz seit heute morgen. Ich kenne den Fall kaum, von dem Sie sprechen. Geben Sie mir bitte ein wenig Zeit, mich einzulesen. Dann kann ich mir eine Meinung bilden. Herr Schultz hat mir die Akte dort auf seinen Schreibtisch gelegt. Daran können Sie sehen, dass wir das Verfahren beschleunigt fördern. Sie dürfen mich gern gegen Abend noch einmal anrufen. Dann kann ich Ihnen mehr sagen.«
Es klopfte. Mario Beilstein steckte ohne weiteres Zuwarten den Kopf herein und blickte sich um. »Guten Tag, Herr Diener. Ich sehe, Sie haben Besuch. Könnte ich Sie einen Moment sprechen?«
Augustin Diener erhob sich, entschuldigte sich bei Ellen Krawinckel und verließ das Zimmer. Er begrüßte Beilstein mit Handschlag. »Was kann ich für Sie tun? Soll ich mit auf Ihr Zimmer kommen?«
»In der Sache Beuchert hat das Ministerium bei unserem Chef angerufen und will den aktuellen Sachstand wissen. Warum, weiß ich nicht genau. Mir ist klar, dass Sie sich den Fall erst anschauen müssen, da Herr Schultz ausgerechnet heute in Urlaub ist. Kommen Sie bitte auf mich zu, sobald Sie sich sachkundig gemacht haben.«
»Das ist Frau Krawinckel, die mich in meinem Dienstzimmer aufgesucht hat. Vielleicht hängt die Anfrage des Ministeriums damit zusammen. Frau Krawinckel beschwert sich darüber, die Polizei steige ihrem Mann nach und beschädige damit seinen Ruf.«
»Kümmern Sie sich bitte um ihr Anliegen. Bearbeiten Sie diese Geschichte bevorzugt. Wir sehen uns gleich.«
Diener ging zurück in sein Zimmer. Als er es betrat, hatte er den Eindruck, dass sich Ellen Krawinckel gerade wieder hinsetzte. Außerdem meinte er, dass die Beuchert-Akte auf dem Schreibtisch anders lag als zuvor. Sicher war er sich nicht und beschloss, genauer hinzuschauen, sobald er wieder alleine sein würde. »Ich bitte nochmals um Entschuldigung, dass ich Sie kurz alleine lassen musste.«
Ellen Krawinckel presste die Lippen zusammen und verrieb dabei den dunkelroten Lippenstift, der stark mit ihrem hellen Make-up und dem nachtschwarzen Eyeliner kontrastierte. Sie setzte wieder ihr Lächeln auf. »Sie sind noch sehr jung und ein gut aussehender Mann, Herr Diener. Ein bisschen erinnern Sie mich an einen dieser athletischen College-Boys aus den USA, die man gelegentlich beim Tennis trifft. Ich finde diesen Typ Mann enorm erotisch. Wie wird man in diesem Alter schon Staatsanwalt? Sie müssen außergewöhnliche Gaben besitzen.«
Der helle Teint von Diener wechselte in eine rosarote Farbe. Er spürte es und ärgerte sich darüber. Da galt er im Kollegenkreis als ausgemachter Frauenheld und versagte in der ersten dienstlichen Situation, wo ihm diese Erfahrung hätte helfen können.
»Sie verschätzen sich da und dort. Doch das tut nichts zur Sache. Sie sehen noch jünger aus als ich und haben schon eine bemerkenswerte gesellschaftliche Position erreicht, die sich nur einem kleinen Teil der Menschen eröffnen wird. Kommen wir zurück zu unserem Fall. Melden Sie sich heute Abend bei mir. Dann weiß ich mehr.«
Ellen Krawinckel kniff ein Auge zu. »Wissen Sie, was mich die ganze Zeit bewegt? Was würden Sie jetzt eigentlich tun, wenn ich mir die Bluse und meinen Büstenhalter aufreiße, aus Ihrem Dienstzimmer auf den Flur stürze und dort markerschütternd um Hilfe schreie? Sie sind seit einiger Zeit hier alleine mit mir im Zimmer. Ich bin Ihnen körperlich weit unterlegen. Das wäre wohl das Ende Ihrer Karriere.«
Für einen Sekundenbruchteil zuckte Diener zusammen. Sie hatte gar nicht so unrecht. Ihre Behauptung würde gegen seine Aussage stehen. Außerdem würde sie ihren gesamten gesellschaftlichen Einfluss ausnutzen können. Hinzu kam noch sein Ruf als Herzensbrecher. Das wäre keine gute Ausgangsposition für ihn. Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung schob er den Wechselrahmen auf seinem Schreibtisch zur Seite. Er hielt den Kopf schief und gab ihm einen Ruck, als wolle er seine Haare nach hinten werfen. Zeitgleich stieß er einen hysterischen Lacher aus. Seine Stimme klang nun fast eine Oktave höher. »Tun Sie sich keinen Zwang an, Verehrteste. In diesen Dingen bin ich völlig unverdächtig. Ihr Nachteil ist, dass Sie mich nicht kennen. Ich habe mich hier in der Behörde schon bei meiner Einstellung geoutet. Sie sitzen einem bekennenden Schwulen gegenüber.« Er stützte
Weitere Kostenlose Bücher