Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Kabinett der Wunder

Titel: Das Kabinett der Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Rutkoski
Vom Netzwerk:
miteinander geteilt und die Regeln erstellt werden, wie ein Gegenstand hergestellt und verkauft werden soll. Normalerweise hatte jede Stadt eine Glasbläserzunft, eine Lederhandwerkzunft und so weiter. Doch Okno war so klein, dass Tomiks Vater das einzige Mitglied gewesen wäre, wenn es hier eine Glasbläserzunft gegeben hätte. Dasselbe galt für viele andere Handwerker, einschließlich Petras Vater. So gab es in diesem Ort einfach nur die Zunft. Ihre Mitglieder arbeiteten miteinander - oder taten das zumindest meistens. Ein Lederschuh, von Meisterin Chistni geschaffen, wurde mit einer Schnalle verschlossen, die Petras Vater gemacht hatte. Doch Meisterin Chistnis Leder war in stundenlanger Arbeit weich gewalkt
worden, nicht durch Magie. Das war etwas, das sie bei der Zusammenarbeit mit Meister Kronos gerne vergaß. Nicht alle Mitglieder der Zunft teilten ihre Einstellung.
    So war Petra auch nicht weiter überraschte, als Tomik den Kasten wieder unter seinem Bett verstaute und sagte: »Vielleicht sollte das unser Geheimnis bleiben.«

Erde und Sonne, Sonne und Erde
    ES DÄMMERTE bereits, als Petra das Haus der Stakans verließ. Die Sonne war untergegangen und färbte die Wolken rosa. Über ihnen hatte sich in der Himmelskuppe ein dunkles Blau breitgemacht. Ein heller Stern, groß wie ein Stecknadelkopf, zwinkerte wie der Blitz in Tomiks Kugel. Petras Vater hatte ihr beigebracht, dass helle Sterne wie diese Planeten waren, genau wie die Erde. Genau wie die Erde?, fragte sie sich. Gab es dort Berge und Täler wie hier? Hatten die Menschen dieselben Probleme? Vielleicht waren auf diesem Planeten die Dinge anders, und niemand nahm dort jemals etwas, das ihm nicht gehörte.
    Ein Hund bellte, dann waren die Straßen von Okno wieder still. Die Bauern waren von den Feldern heimgekehrt und in fast jedem Haus war ein Fenster - das Küchenfenster - vom Herdfeuer erleuchtet. Eigentlich hätte sie nun auch schnell nach Hause zum Abendessen gehen sollen, doch sie trieb sich beim Brunnen in der Ortsmitte herum und tauchte ihre Hände in das kühle dunkle Wasser.
    Über dem Plätschern des Brunnens hörte Petra die
Schreie der Schwalben. Die Vögel schossen in großen Kreisen um sie herum und fingen sich ihre Abendmahlzeit zusammen.
    Astrophil wühlte sich tiefer in ihre Haare hinein.
    »Angst, Astro?«, stichelte Petra und versuchte damit, ihre düstere Stimmung abzuschütteln.
    »Nur Vorsicht«, flüsterte er.
    »Glaubst du, irgendeine magere Schwalbe giert nach einem Leckerbissen wie dir? Quatsch.Von Metallinsekten kriegen Vögel bloß Bauchweh.«
    »Ich bin kein Insekt. Ich bin ein Spinnentier. Es gibt einen deutlichen und viel beachteten Unterschied zwischen den beiden.«
    »Astrophil, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wie ein muffiger alter Schulmeister klingst, wenn du Angst hast?«
    »Danke schön. Aber das ist keine Angst, das ist Ärger.« Eine Schwalbe schlug dicht an Petras Kopf mit den Flügeln und Astrophil quietschte auf. »Können wir bitte jetzt nach Hause gehen?«
     
     
    Als Petra in die Küche kam, stand Dita am Herdfeuer und schöpfte gekochte Möhren mit Thymian aus dem großen Eisentopf, der über den Holzscheiten hing. Josef und David saßen an dem Eichentisch, dessen Platte so dick war, dass man, wenn man die Faust daraufdonnern ließ, das Gefühl hatte, gegen eine Wand gelaufen zu sein. Allerdings sollte man sich dabei stets bewusst sein, wie wenig man den Tisch damit beeindruckte.

    Josef war dem Tisch ziemlich ähnlich. Er war ein großer Mann, muskulös und braun gebrannt.Tiefe Furchen zogen sich durch sein Gesicht. Petras Vater sagte immer, dass man das Alter eines Baums an den Ringen eines abgesägten Baumstamms abzählen könne. Ein Ring bedeutet ein Jahr. Doch wenn Petra die Falten in Josefs Gesicht auf dieselbe Art zählen würde, wäre er uralt. Und dabei zählte er noch nicht einmal vierzig Jahre. Er warf Petra einen kurzen Blick zu und kaute weiter. Er war auch ungefähr so gesprächig wie der Tisch.
    Dita funkelte Petra an. Sie wollte sie eindeutig anschreien, weil sie so spät kam, doch dann schien sie sich mit einem leichten Schulterzucken zu besinnen, dass der Tag schon ungewöhnlich genug gewesen war und als Entschuldigung für Petras Benehmen herhalten konnte.
    Petra setzte sich David gegenüber. Er schob sich eine gewaltige Ladung Möhren in den Mund und war sichtlich enttäuscht, dass Petra wegen ihrer Verspätung keinen Ärger bekam.
    Nachdem sie mit dem Essen fertig waren,

Weitere Kostenlose Bücher