Das Kabinett der Wunder
wärmte Dita eine großzügige Portion Hühnchen mit Möhren in dem Topf über dem glosenden Feuer. Dann richtete sie alles auf einem Teller an, gab noch ein paar eingelegte Zwiebeln dazu und reichte den Teller Petra. »Bring das deinem Vater.«
Petra machte sich Gedanken, dass er vielleicht schlief oder, schlimmer, dass sie ihn wecken würde. Doch er war wach und freute sich, als sie ins Zimmer kam. »Ich habe für meinen Feind einen Namen gefunden: »Langeweile«, sagte
er und winkte sie an seine Seite. »Du wirst ihn aufscheuchen und in die Flucht schlagen.«
Sie verloren kein Wort darüber, dass er eine Ferkelei anrichten würde, wenn er versuchte, selbst zu essen. Er richtete sich einfach auf und sie setzte sich neben ihn mit dem Teller auf ihren Knien. Es war ein seltsames Gefühl, den eigenen Vater zu füttern - wie mit der linken Hand zu schreiben. Er redete zwischen den einzelnen Bissen, als sä ßen sie einander am Küchentisch bei einem ganz normalen Essen gegenüber, wobei er auch nach Tomas Stakan fragte und lachen musste, als sie ihm von ihrem Zusammenstoß mit Jaspar erzählte. Doch Tomiks Glaskugeln und den Grund für ihren Besuch im »Haus zum Feuer« erwähnte sie nicht.
Von Meister Stakans Wutausbruch erzählte sie jedoch und fügte dann hinzu: »Nur etwas verstehe ich nicht. Er weiß, was der Prinz für ein schrecklicher Mensch ist. Warum du nicht? Warum hast du das Angebot des Prinzen angenommen, eine Uhr für ihn zu bauen?«
Darauf antwortete er nicht direkt. »Nun, Petra«, begann er bedächtig, »manchmal muss man die Menschen aus Mangel an Beweisen freisprechen. Natürlich hat es den widerwärtigen Vorfall im Jahr der Dürre gegeben, als wir viele gute Leute verloren haben. Sie waren meine Freunde, Petra. Leute, von denen ich wünschte, du hättest sie kennengelernt. Aber der Prinz war damals ein zwölfjähriger Junge und die Berater seines Vaters in Prag lenkten ihn. Sie fällten alle Entscheidungen, bis er vierzehn wurde.
Böhmen ist zwar ein eigenes Land, doch es bleibt Teil
des Habsburgischen Reichs unter der Regierung vom Vater des Prinzen. Kaiser Karl regiert von Wien aus und hat drei Söhne. Bei ihrer Geburt gab er jedem ein Land. Der Älteste, Prinz Maximilian, herrscht über Deutschland. Ungarn gehört Prinz Frederic. Und der Jüngste, Prinz Rodolfo, bekam Böhmen. Wenn Karl spürt, dass sein Ende nahe ist, wird er auswählen, welcher Sohn nach ihm der Herrscher über das ganze Habsburgische Reich werden soll, und er wird es danach entscheiden, wie gut jeder von ihnen sein Land regiert hat.
Es ist leichter«, fuhr Mikal Kronos fort, »dein Unglück nur einer Person anzulasten als einer ganzen Gruppe. Dann kannst du dir nämlich vormachen, dass nur diese Person verschwinden müsste, und alles würde anders und besser werden. Vielleicht stimmt das ja auch manchmal. Doch meistens ist das eine Wunschvorstellung. Lass es uns einmal so sagen: Der Prinz hat den Befehl gegeben, die Leute, die eine Rebellion geplant hatten, als die Felder vertrocknet sind, einzukerkern, sogar zu töten. Das war eine brutale Entscheidung. Aber wie konnte ich einen jungen Mann für eine Entscheidung verantwortlich machen, die er als Kind getroffen hat?«
»Er war damals gerade so alt wie ich jetzt.«
»Ich bin alt«, sagte ihr Vater seufzend. »Und ich mache immer noch Fehler, wenn ich etwas beurteile.«
Petra hörte ihn nicht gern so sprechen. Seine glatten grau melierten Haare flossen ihm über die Schultern, und Petra musste nur einen Blick darauf werfen, um sich einzugestehen, dass da mehr graue als schwarze dabei waren.
Sie war nicht sein erstes Kind gewesen. Ihre Mutter hatte schon drei Söhne zur Welt gebracht, die alle entweder tot geboren wurden oder gleich nach der Geburt starben, und der dritte war Petras Zwillingsbruder gewesen. Es hatte damals wie heute keine Hebamme oder einen Arzt im Ort gegeben, lediglich eine alte Frau, Varenka, die Heiltränke braute und half, Kinder zur Welt zu bringen, obwohl sie von beidem nicht besonders viel verstand.
»Natürlich bin ich dem Prinz gegenüber misstrauisch gewesen«, fuhr ihr Vater fort. »Wenn du dich erinnerst: Ich bin zuerst nach Prag gegangen, um ihn kennenzulernen, bevor ich die Arbeit angenommen habe.«
»Aber wie hast du nur einwilligen können? Schau dir doch an, was er mit dir gemacht hat. Wie konntest du ihn treffen und nicht erkennen, wie er wirklich ist?«
»Es ist nicht immer einfach, den Menschen anzusehen, wie sie sind. Ich
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