Das Kabinett der Wunder
braunen Rock hinzu, der noch ganz steif war, weil er nie getragen worden war. Sie überlegte einen Augenblick und dann stopfte sie noch ein paar Sachen für den Winter hinein: eine Jacke aus dickem Leder und einen Schal, den Dita für sie gestrickt hatte. Pavel und Lucie würden womöglich nicht lange in Prag bleiben, doch das bedeutete ja nicht, dass sie die Stadt mit ihnen verlassen musste.
Sie blies die Kerze aus. Das Übrige, was sie noch brauchte, würde sie am frühen Morgen einpacken, wenn sie sicherer sein konnte, nicht die Aufmerksamkeit der Familie auf sich zu lenken. David war bestimmt noch wach in seinem Zimmer im obersten Geschoss über ihr.
Petra konnte lange nicht einschlafen. Sie dachte daran, wie glücklich ihr Vater sein würde, wenn sie mit seinen gestohlenen Augen zurückkäme. Sie würde dann vorschlagen, neue Zinntiere herzustellen, zum Beispiel Glühwürmchen. Sie stellte sich ein grün blinkendes Licht vor, das an- und ausging, an und aus und wieder an und aus und an und aus, bis schließlich alles dunkel war und sie schlief.
Astrophil musste sie mehrfach kneifen, bis sie sich endlich aufsetzte. »Au! Astro! Muss das sein?«
»Vielleicht, vielleicht nicht. Aber es macht Spaß.«
Noch ganz verschlafen, zog Petra sich an. Dann nahm sie von einem Brett ein Blatt Papier, einen Gänsekiel und ein Tintentöpfchen. Sie schrieb den gefälschten Brief von Dita an Lucie und Pavel und blies die Tinte trocken. Dann riss Petra ein Stück vom unbeschriebenen unteren Teil des Blattes ab und steckte den Brief in ihren Sack. Sie tauchte die Feder wieder in die Tinte, beugte sich über ihren Tisch und schrieb auf den Papierfetzen:
Vater, Dita, Josef und David,
ihr Lieben,
ich bin bald zurück, macht euch keine Sorgen um mich.
In Liebe
Petra
Petra warf den gepackten Sack über die Schulter. Leise stahl sie sich durch den Flur in die Bibliothek ihres Vaters und blätterte dann Bücher und Papierstapel durch.
»Was genau machst du da eigentlich?«, fragte Astrophil.
»Ich suche nach Zeichnungen oder Notizen zu der Uhr«, antwortete sie. Der Verlust der Augen hing mit der Uhr zusammen, und daher brauchte sie so viele Informationen über sie wie möglich.
Als die frühe Morgendämmerung langsam die Bibliothek erhellte, sie mit dem grauen Licht erfüllte, das kurz
vor Sonnenaufgang erscheint, gab Petra es auf. Ihr Vater hatte wohl alle Papiere, die mit der Uhr zusammenhingen, in Prag zurückgelassen, wahrscheinlich in der Hand des Prinzen.
Jetzt musste sie nur noch eines machen. Sie entriegelte das geheime Versteck im Fußboden und nahm einige Kronen heraus - nicht zu viele. Dann verschloss sie das Geheimfach wieder.
Sie wandte sich schon zum Gehen, als etwas auf dem Boden ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. In dem glatten Holzbrett, das das Geheimfach verdeckte, erblickte sie ein Muster von extrem kleinen Löchern. Sie fragte sich, warum sie das nicht schon früher bemerkt hatte.Womöglich konnten diese Löcher nur in der Dämmerung gesehen werden. Bestimmt war sie noch nie so früh wach gewesen, um sich den Boden in der Bibliothek ihres Vaters anzusehen - oder überhaupt etwas zu tun, was das betraf.
»Ahem.« Astrophil klopfte ungeduldig mit einem Bein.
Petra beachtete ihn nicht. Sie untersuchte den Boden genauer und bemerkte einen staubigen Teppich am Fuß des einen Regals. Sie zog ihn zur Seite und entdeckte voller Aufregung eine Konstellation von Löchern, kleiner als eine Nadelspitze, in das schimmernde Holz gebohrt.
Mit klopfendem Herzen stieg sie zum zweiten Mal die Leiter zum Löwenzahn hinauf. Nachdem sie das Springbrunnenbuch beiseitegeschoben hatte, blies sie erneut auf die Blume. Die Samen rührten sich nicht. Sie rüttelte an dem Stängel, doch der bog sich nur vor und zurück, ohne einen seiner Samen abzustoßen. Es funktionierte nicht.
Astrophil sagte: »Ich muss noch mal fragen: Was machst du da eigentlich?«
»Ich weiß nicht genau«, gab sie zu. Petra sah den Löwenzahn an. Sie hätte ihn gerne geschüttelt, nur um ihre Enttäuschung loszuwerden, doch stattdessen schob sie die Bücher wieder an ihren Platz.
Während sie das tat, fiel ihr jedoch etwas auf: Neben dem Buch über Springbrunnen stand eines über wertvolle Steine. Sie nagte an ihrer Lippe, während sie angestrengt überlegte, legte dann den Löwenzahn wieder frei und prägte sich seine runde silbrige Form ein.
»Petra, willst du nun gehen oder nicht? Weil wir dann nämlich jetzt auf der Stelle aufbrechen
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