Das Kabinett der Wunder
jeder Unebenheit des Weges klingelte und klirrte.
Lucie redete pausenlos. Sie zeigte, wo früher im Sommer Mohnblumen entlang der Straße gewachsen waren. »Aber jetzt sind sie alle weg.« Sie seufzte. »Sie waren so rot und schön.«
Pavel blickte sie liebevoll an. Als sich eine Schlange über die unbefestigte Straße schlängelte, wieherte das Pferd, und Lucie kreischte laut auf. Pavel tätschelte ihr den Arm. Petra verdrehte die Augen.
Während der meisten Zeit der Fahrt hatte Lucie den Arm über die Rücklehne gelegt, sich nach hinten gedreht und mit Petra geredet. Das jüngere Mädchen nickte zu allem, was Lucie sagte, konnte es jedoch kaum abwarten, in das Buch zu schauen, das sie aus dem Geheimfach in der
Bibliothek ihres Vaters genommen hatte. Als der Tag sich dem Ende zuneigte, warf sie ein paar verstohlene Blicke auf die Seiten. Das reichte zur Bestätigung, dass es tatsächlich Skizzen von einer sehr großen Uhr waren.
»Darf ich es lesen?«, fragte Astrophil.
Petra hielt es der Spinne aufgeschlagen entgegen. Astrophils grüne Augen glühten im Dämmerlicht. Schnell arbeitete er sich durch die Seite, überflog die hingekritzelten Notizen, erreichte das Ende der Seite und schlüpfte unter sie. Eine Beule erschien im Papier, als Astrophil es von unten hochstemmte. Dann schlug die Seite um, als hätte eine unsichtbare Hand sie umgeblättert.
»Ich mag die Dunkelheit nicht«, sagte Lucie.
»Keine Sorge«, erwiderte Pavel. »Wir müssten eigentlich in Prag sein, bevor es richtig Nacht wird. Und wenn nicht, können wir mithilfe meiner kleinen Laterne genug sehen.«
Petra schnaubte verächtlich und hustete dann, um das Geräusch zu tarnen. »Kleine Laterne« war Pavels Kosename für Lucie, deren Name ja eigentlich »Licht« bedeutete. Die Bedeutung von Petras eigenen Namen konnte nicht gegensätzlicher sein.
Als die Söhne von Marjeta Kronos geboren wurden, gab sie ihnen jedes Mal denselben Namen, womit sie einen Zug von Hartnäckigkeit an den Tag legte, den Petra sicher geschätzt hätte. Die Jungen, die im Abstand von einigen Jahren geboren wurden, bekamen den Namen Petrak, was »Fels« bedeutet. Die beiden ersten Söhne lebten gerade so lange wie ein abgeschnittener Fliederzweig in einer Vase.
Eine Woche lang. Sie atmeten flach, schrien kaum und weigerten sich zu saugen.Varenka massierte ihre Glieder mit Öl und Wein und tupfte ihnen Honig aufs Zahnfleisch. Auch bot sie an, einen Mumitrank zu brauen. Das ist ein Gebräu aus Leichenteilen, die aus Gräbern gestohlen und dann gekocht wurden. Mumi soll den Tod abwehren. Aber Marjeta lehnte jedes Mal ab, wenn Varenka das anbot, und sagte, dass nichts die Babys retten könnte, und sie wollte die kurzen Leben der Kinder in keinster Weise schmerzhafter machen, auch nicht dadurch, dass man sie zwang, eine abscheuliche Flüssigkeit zu trinken, die doch nichts half. Varenka war beleidigt, stritt aber nicht mit ihr darüber. Immerhin konnte Marjeta Kronos die Zukunft voraussagen.
Als sie zum dritten Mal schwanger wurde, wurde sie immer schwermütiger, je weiter die Schwangerschaft fortschritt. Ihre ältere Schwester - Ditas Mutter - und alle ihre Freundinnen gaben ihr Bestes, um ihr durch diese schwierige Zeit zu helfen, doch Marjeta Kronos war nicht länger die fröhliche Frau, die sie alle kannten. Ihr Mann war zwar verzweifelt über den Tod der beiden Söhne gewesen, doch er weigerte sich, die Hoffnung für sein drittes Kind aufzugeben. Er drängte seine Frau zu sagen, was sie bedrückte. Marjeta wurde jedes Mal, wenn er fragte, verschlossen und müde und schüttelte den Kopf mit der Entschiedenheit eines Menschen, der wusste, dass das, was er zu sagen hatte, nicht geglaubt würde oder nichts Gutes brächte.
Als sie niederkam, gebar sie Zwillinge. Das erste Kind war ein Sohn. Er wurde tot geboren, doch Marjeta sagte, er
sollte in jedem Fall Petrak heißen. Das zweite Kind war ein rosiges, gesundes, schreiendes Mädchen. Es wurde in ein sauberes Tuch gewickelt und seiner Mutter gegeben, doch da war Marjeta bereits zu schwach, um es zu halten. Stattdessen wiegte Mikal das Mädchen in seinen Armen. Marjeta öffnete die Augen und sagte zu dem Neugeborenen: »Ich habe Angst um dich. Die Zukunft ist nicht klar, mein Liebling.« Und dann fügte sie noch etwas Seltsames hinzu: »Das Hufeisen bringt sich selber Glück.«
Als Marjeta starb, wollte Mikal das Baby nach ihr nennen. Doch seine Schwägerin schlug den Namen Petra vor und sagte, sie glaube, dass Marjeta
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