Das Kabinett der Wunder
das gewollt hätte. Und so wurde Petra zu der, die sie war.
»Petra.«
Lucie beugte sich über die Rücklehne. »In Prag kannst du nicht so rumlaufen wie sonst, halb Junge und halb Mädchen. Vielleicht ist das den Leuten in Okno egal, wie du dich kleidest, aber in Prag würden dich die Leute komisch angucken. Du solltest dir das Haar kämmen und etwas Passenderes tragen, etwas Mädchenhafteres.«
Petra überlegte. »Kannst du mir einen Kamm leihen?«
Lucie reichte ihr einen nach hinten. Dann wandte sie ihr Gesicht wieder der Straße zu und rückte sich auf ihrem Sitz mit der Befriedigung eines Menschen zurecht, dessen Worte nach vielen Jahren endlich vernommen worden waren.
Als Lucie ihr wieder den Rücken zugekehrt hatte, zog Petra das Messer aus ihrem Bündel, klappte es auf und säbelte an ihrem verhedderten Haar herum, schnitt immer
weiter, bis es ihr gerade auf die Schultern fiel wie bei Tomik. Dann arbeitete sie sich mit dem Kamm durch ihr ungewohnt kurzes Haar und kniff dabei vor Schmerz die Augen zusammen. Doch als sie die meisten der Knoten entwirrt hatte, freute sie sich darüber, wie locker ihr die Haare um den Hals wippten. Sie fühlte sich leichter und freier.
»Danke, Lucie«, sagte sie zum Rücken der jungen Frau und reichte ihr den Kamm.
Lucie drehte sich mit einem Lächeln um, das irgendwo auf halbem Weg stecken blieb. Sie schnappte nach Luft. »Petra!«, flüsterte sie entsetzt. »Du siehst ja aus wie ein Junge!«
Pavel, der seinen Blick verantwortungsvoll fest auf den Weg gerichtet hatte, warf einen schnellen Blick über die Schulter zurück, dann stieß er einen langen Pfiff aus.
»Dita wird dich umbringen«, sagte Lucie.
»Sonst noch was Neues?« Petra zuckte mit den Schultern und wischte die abgeschnittenen Haare aus dem Wagen, damit die Vögel daraus ihre Nester bauen konnten.
Die goldene Spirale
DAS ALSO war Prag?
Ihr erster Blick auf die Stadt hatte sie in Staunen versetzt.Als Lucie, Pavel und Petra den Stadtrand erreicht hatten, war es bereits Nacht gewesen und die Stadt flimmerte vor Lichtern. Die Moldau floss wie Quecksilber im Mondschein dahin. Boote tanzten auf dem Wasser. Die Turmspitzen der Burg oben auf einem großen Berg spießten die schwarzen Wolken auf.
Lucie hatte diesen Moment verschlafen, ihr Kopf lag an Pavels Schulter. Als sie beim Gasthof ankamen, half ihm Petra, sie aufzuwecken.
Sie ließ ihre langen blonden Augenwimpern gerade lange genug hochflattern, um einen Blick auf Petra zu werfen. »Wer bist du?«, murmelte sie verwirrt und schlief sofort wieder ein. Pavel und Petra schafften es, sie nach oben in ihr Zimmer zu befördern. Der Gastwirt brachte noch eine zusätzliche Pritsche für Petra. Sie ließ sich darauf fallen und versuchte, nicht auf die Wanzen zu achten. Zuerst war sie zu aufgeregt, um zu schlafen. Das Muster aus den Lichtern der Stadt, nicht so durcheinander, aber auch
nicht sonderlich geordnet, brannte hinter ihren geschlossenen Augenlidern. Sie entschied, dass sie noch niemals etwas so Schönes wie diese Stadt gesehen hatte.
Doch das Morgenlicht kann gnadenlos sein. Bei Tagesanbruch schlürften mehrere Gäste des Gasthofs in der Schankstube lautstark Schalen voll klumpiger Schleimsuppe in sich hinein. Petra beschloss, das Frühstück ausfallen zu lassen. Sie erzählte Pavel und der immer noch verschlafenen Lucie, dass sie schon einmal in Prag gewesen wäre und den Weg vom Gasthof zu Tante Aneska kannte. Pavel dachte an all die Dinge, die er heute zu erledigen hatte, und so sagte er einfach nur, Petra solle sie vor Einbruch der Dunkelheit wieder im Gasthof treffen und dann wissen lassen, ob sie vorhabe, bei ihnen oder ihrer Tante zu schlafen. Lucie, nur halb wach, nickte und rührte mit ihrem Löffel in der Schleimsuppe. Petra nahm ihr Bündel über die Schulter, in dem sich die Sachen befanden, die auf keinen Fall gestohlen werden durften: das Buch ihres Vaters und Tomiks Kugeln. Den Geldbeutel band sie sich um die Hüfte unter das Hemd und dann machte sie sich auf den Weg.
Das Erste, was ihr an ihrem ersten Tag in Prag passierte, war, dass sie in einen Haufen von etwas sehr Unerfreulichem trat. Sie blickte nach unten und verzog das Gesicht. »Bah!«
Astrophil spähte hinter ihrem Ohr hervor. »Das sieht aus, als hätte jemand seinen Nachttopf einfach auf die Straße geleert«, sagte er fassungslos.
Auf der anderen Seite der Straße erschien in einem der oberen Fenster ein Paar Hände und bestätigte Astrophils
Theorie. Die Spinne und das
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