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Das Kabinett der Wunder

Titel: Das Kabinett der Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Rutkoski
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er das nicht sehen konnte.

Glühwürmchen
    EIN PAAR Tage später war Petra zu Besuch bei Tomik im »Haus zum Feuer«. Damit Meister Stakan ihn nicht hören konnte, flüsterte er ihr zu: »Lucie und Pavel brechen morgen früh auf. In der Dämmerung. Ich werde da sein.«
    Petra rannte unverzüglich nach Hause.
    Im Zwielicht der Abenddämmerung kam ihr das Schild mit dem Kompass wie eine Blume vor, die in eine Maschine verwandelt, oder wie eine Maschine, die in eine Blume verwandelt war. Sie wandte sich ab und rannte um das Haus herum. Dort zog sie die Schuhe aus und ging durch Ditas kleinen Garten.
    Petra hatte es in der letzten Zeit immer vermieden, hierherzukommen. Nicht wegen Ditas Gemüsebeeten, sondern wegen des Gebäudes, das sich gleich dahinter befand. Es war die Schmiede ihres Vaters mit der Esse und dem Bottich voll Wasser, um das rot glühende Eisen abzukühlen. Noch vor etwas mehr als einem Monat wäre der Anblick der Schmiede entmutigend gewesen. Doch heute Abend glühte ihr Geist vor Aufregung so hell wie ein Stück vom
Feuer erhitztes Metall. Seit Astrophil den Verdacht geäu ßert hatte, ihr Vater habe sein Augenlicht verloren, während er versuchte, für sie die Ausbildung eines Edelmanns zu sichern, empfand Petra schwere Schuld. Dieses Gefühl wollte sie in glühenden Stolz umwandeln.
    Zwölf Jahre lang war sie nicht das gewesen, was man im Städtchen »ein beeindruckendes Mädchen« nennen würde. Ein paarmal hatte Petra den Unterricht im Schulhaus besucht, doch sie fand ihn fürchterlich langweilig und bekam nur Durchschnittsnoten. Sie war schlank, nicht eigentlich hübsch, hatte breite Wangenknochen und die eigenartigen Silberaugen ihres Vaters. Mikal Kronos behauptete immer, sie habe eine Begabung für Metallarbeiten, doch sie hatte sich nie Mühe gegeben, das zu lernen, was er konnte. Und jetzt, wo sie alt genug war, bei ihm in die Lehre zu gehen, um wenigstens die allgemeinen Grundlagen seines Handwerks zu lernen, gab es so viel, was er nicht mehr machen konnte, ihr nicht mehr zeigen konnte.
    Doch das würde sich ändern.
    Petra betrat das Haus durch die Hintertür, ging zur Bibliothek und schnappte sich den protestierenden Astrophil von den Seiten eines Buchs über Geometrie. Dann ging sie in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich ab und hob die rechte Hand, um der verwirrten Spinne ins Gesicht zu sehen.
    »Es ist Zeit, ins Bett zu gehen«, verkündete sie. »Wir brechen morgen auf. Weckst du mich zwei Stunden vor der Morgendämmerung?«
    Zuerst sagte er nichts. Dann meinte er langsam: »Dein
Plan, nach Prag zu gehen, ist mutig, Petra. Aber ist er denn auch klug?«
    »Was kann uns schon passieren? Wir sind bei Lucie und Pavel. Außerdem kundschaften wir bloß die Möglichkeiten aus,Vaters Augen zu retten. Das ist also sozusagen nur eine vorbereitende Unternehmung. Du weißt doch, dass ich nichts Gefährliches tun würde.«
    Hätte Astrophil Augenbrauen gehabt, so hätte er sie jetzt ungläubig angehoben. »Dieses Abenteuer könnte wie ein Brandungsrückstrom sein.«
    »Was soll das heißen?«
    »Einen Brandungsrückstrom hast du, wenn du im Meer dicht an der Küste schwimmst und gar nicht vorhast, weiter rauszuschwimmen, und dich dann eine Unterwasserströmung weit raus ins tiefe Wasser zieht.«
    »Wie poetisch schwarzseherisch von dir, Astrophil. Erstens einmal ist Böhmen von Land umschlossen, erinnerst du dich? Wir haben keine Meere. Also haben wir auch keinen Brandungsrückstrom zu befürchten.«
    »Du verstehst mich ganz bewusst falsch.«
    »Und zum Zweiten vergisst du, wie viel wir aus diesem Erlebnis lernen können.«
    Die Spinne hatte genau registriert, welches Wort Petra so betont hatte. »Du willst mir das Ganze ja nur schmackhaft machen.«
    »Denk doch mal an all das, was Prag zu bieten hat. Die außergewöhnlichsten Gelehrten von Böhmen leben da. Und was ist mit der Bibliothek des Prinzen? Würdest du die nicht wenigstens einmal sehen wollen?«

    Astrophil schwieg und dachte nach. Dann sagte er: »Ich fürchte, dass sich jemand um dich kümmern muss.«
    »Dann um vier Uhr morgen früh?«, fragte Petra fröhlich.
    »Wenn du es tatsächlich schaffst, um vier Uhr aus dem Bett zu kommen, fresse ich mein Spinnennetz.«
    Petra zog aus einer Schublade einen dicken Leinensack heraus, in den sie einen Krug Rapsöl, das Holzkästchen mit Astrophils Löffel, ein Messer, zwei Paar Hosen, drei Hemden mit Kordelzug und einen Arbeitskittel stopfte. Mit einer Grimasse fügte sie noch ihren

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