Das Kabul-Komplott - Bannel, C: Kabul-Komplott
Ich hätte heute Vormittag an meinem Rechner arbeiten sollen«, gestand er, »doch dann konnte ich nicht widerstehen, als man mir dieses Gericht herbrachte.«
Osama hatte nicht gewusst, dass Mullah Bakirs Frau verstorben war. Er suchte die Wände vergeblich nach dem Porträt einer Frau oder eines Kindes ab. Stattdessen blieb sein Blick an dem mit lauter Antennen gespickten Internet-Router hängen, der leise auf dem Schreibtisch brummte.
»Für einen Mann, der zu den Wurzeln des Islam zurückkehren möchte, besitzen Sie aber ziemlich viel moderne amerikanische Geräte!«, spöttelte er.
»Werfen Sie mich nicht mit meinen Talibankollegen in einen Topf, Bruder Osama! Nicht alle von uns sind bereit, wieder wie im Mittelalter zu leben. Wir wollen einen
modernen
islamischen Staat. Warum sollte man zweihundert Jahre Fortschritt in den Wind schlagen und wie früher leben wollen? Warum akzeptiert man eine Kalaschnikow, nicht aber Computer, Elektrizität, die Weiterentwicklung der Sitten und Gebräuche? Und was die USA angeht, so weiß man ja, dass ich mich um gute Beziehungen zu ihnen bemühe, schon seit einigen Jahren übrigens.« Der Mullah trank einen Schluck Tee, dabei spreizte er den kleinen Finger ab. »Ich habe für den von Ihnen gesuchten Mann einen vorübergehenden Ausgang erwirken können. Der Assistent des Direktors wird ihn persönlich ans südliche Ausgangstor begleiten, und zwar heute Abend um 18 Uhr 30. Um Mitternacht muss er wieder zurück sein. In der Zwischenzeit steht er Ihnen zur Verfügung, und Sie können nach Belieben über ihn verfügen.«
»Danke. Jetzt stehe ich in Ihrer Schuld.«
»Ich weiß«, sagte der Mullah. »Genau deshalb habe ich dieseTransaktion ja auch ermöglicht. Wie heißt der Fachausdruck aus der Finanzwelt bei Ihren Freunden im Westen? Eine ›Option‹, nicht wahr? Ich baue auf Ihre Wertsteigerung,
Qoumaandaan
.«
»Ich verstehe nichts von dem, was Sie sagen.«
»Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie in Wirklichkeit sind. Ländlichkeit hindert einen ja nicht daran, klug zu sein, nicht wahr, denn wie wären Sie sonst zum Mudschaheddin-Kommandanten geworden?«
»Erwarten Sie nicht, dass ich strafbare oder kriminelle Handlungen Ihrer Freunde, der Taliban, decke. Ich brauche diesen Mann für eine offizielle Untersuchung, es geht hier nicht um eine persönliche Gefälligkeit.«
Mullah Bakir schüttelte den Kopf und setzte ein betrübtes Gesicht auf.
»Die Welt heutzutage besteht doch aus lauter Gefälligkeiten. Ihnen überlasse ich den Mann, Bruder Osama, nicht dem Polizeioberst dieses gottlosen, verderbten Regimes. Ich möchte Sie bei der Gelegenheit darauf aufmerksam machen, dass Sie beim Direktor eine offizielle Entlassungsurkunde unterzeichnen müssen. Somit sind Sie der Leitung gegenüber für die unbeschadete Rückkehr des Gefangenen zur vereinbarten Zeit verantwortlich.«
»Der Gefängnisdirektor …«
»… hasst Sie, ich weiß. Glücklicherweise ist die Angst, die ich ihm einflöße, größer als der Hass, den er Ihnen gegenüber empfindet. Er wird sich genau wie der kleine Pinscher verhalten, der er ist.«
»Verstehe«, sagte Osama. »Damit wollen Sie mir aber nicht etwa eine Falle stellen, sollten die Dinge schiefgehen, oder?«
»Da sieht man, dass Sie gar nicht so ländlich-unbedarft sind, wie Sie vorgeben. Man könnte es so sehen. Oder wie eine Art Sicherheit … Der Gefängnisdirektor ist nicht der mutigste Mann Kabuls. Wenn Sie auch nur ein winziges Problem bekommen,könnte er das Papier hernehmen und es an jemanden verkaufen, der dann versuchen könnte, Sie zum Singen zu bringen. An mich zum Beispiel. Oder vielleicht auch an diesen Esel von Innenminister, den Sie so sehr verachten, wie man hört. Was erwarten Sie? Niemand in diesem Land besitzt noch Anstand. Der Krieg dauert schon viel zu lange, die Afghanen haben innerhalb viel zu kurzer Zeit zu viele Zusagen gegeben: den Kommunisten, den Russen, der Nordallianz, uns, heute den Amerikanern … Sie sollten froh sein, ich hätte Sie heute Abend, am Gefängnistor, vor vollendete Tatsachen stellen können!«
»Das ist wahr«, pflichtete Osama bei. »Warum gehen Sie das Risiko ein, mir zu helfen? Ich bereite Ihnen doch nur Scherereien. Allein die Tatsache, dass ich Bescheid weiß, wie weit sich Ihre Macht erstreckt, bringt Sie doch schon in Gefahr.«
»Das haben schon ganz andere, weit Mächtigere, vor langer Zeit begriffen, Bruder Osama, und ich bin noch immer am Leben. Manchmal sind die Dinge komplizierter,
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