Das Kabul-Komplott - Bannel, C: Kabul-Komplott
es nur ein, zwei Stunden pro Tag Strom. Osama bemerkte diverse Nippesfiguren auf den Regalen, altmodisches Schreibzeug, Gänsefedern, Tintenfässer aus aller Herren Länder. Kalkana war ein leidenschaftlicher Sammler. Neben Dingen, die mit seinem Beruf zu tun hatten, entdeckteOsama kuriosere Dinge. Er besah sich eine Reihe von Puppen. Malalai hatte ihm einmal erklärt, was sie bedeuteten. Man benutzte sie früher zur Diagnostik bei Frauen, die nämlich auf die Stelle zeigten, wo es ihnen wehtat, damit der
Daktar
sie nicht zu berühren brauchte. Seit die Taliban an der Macht waren, hatten die Puppen ausgedient, denn kein Mann durfte sich einer Frau nähern, auch nicht mittels einer Puppe. Sie waren nur noch das Zeugnis einer vergangenen Zeit.
»Du bist ja immer noch nicht umgezogen, und renoviert hast du auch nicht«, stellte Osama fest. »Du könntest dich doch mal von hier wegbewegen!«
»Die Mieten sind teuer«, sagte sein Freund. »Außerdem, du weißt ja, dass ich keine Lust habe, mich von meinen Brüdern zu entfernen. Ich fühle mich wohl an diesem Ort.«
Als öffentlicher Schreiber verfasste Kalkana alle Arten von Dokumenten für die Analphabeten, die sich an ihn wandten: Beschwerdebriefe an die Verwaltung, Eheverträge, Arbeitsgesuche, Testamente, Mitteilungen an weit entfernte Familienmitglieder. Manchmal waren die Wünsche ausgefallener: Kalkana hatte sich einmal Osama gegenüber damit gebrüstet, die schönsten Liebesbriefe ganz Afghanistans zu verfassen. Leider nahmen immer weniger Kandidaten diesen Dienst in Anspruch – die jungen Menschen telefonierten lieber, als Briefe zu verschicken, oder sie schrieben SMS, die vor Fehlern nur so strotzten. Nachdem er einmal den Entschluss gefasst hatte, sein Leben den Aimaken zu widmen, war Kalkana stets seiner Berufung als öffentlicher Schreiber nachgekommen, obwohl er mit seinem Talent auch hätte Lehrer werden oder sogar an einer Universität hätte unterrichten können. Er war eine reine Seele, und Osama bewunderte ihn sehr.
»Was möchtest du trinken?«, fragte er.
»Einen Tee.«
Kalkana drehte sich zu einem Gasöfchen um.
»Meinen Sekretär bitte ich lieber gar nicht darum, man mussihm alles dreimal sagen. Er war ein großer Musiker, aber deine Freunde haben dafür gesorgt, dass er beinahe taub ist.«
»Das habe ich bemerkt. Was ist passiert?«
»Er hat ein Trommelfell eingebüßt, als deine Kollegen von der Nordallianz 1996 eine Granate zündeten. Ein direkter Angriff auf dieses Viertel, von dem alle Welt wusste, dass hier nicht ein einziger Kämpfer lebte! 1999 haben ihn die Taliban festgenommen, weil sein Bart nicht lang genug war, und da er nicht hörte, was sie sagten, schlugen sie ihn so heftig mit einem Elektrokabel, dass auch das andere Ohr ertaubte und er außerdem ein Auge verlor. So ist unser Land: Dieser unschuldige Mann, dieser hochbegabte Musiker, der überall bekannt war, wurde in jedem verdammten Lager gepeinigt, ungeachtet seines Ansehens. Dieses Land ist verrückt, Osama, ich glaube, der Krieg wird niemals aufhören.«
»Und du wirst niemals aufhören, dich zu empören. Du bist der beste Beweis dafür, dass es für dieses Land noch Hoffnung gibt.«
Sein Freund verschwand und kam kurz darauf mit einer Teekanne zurück.
»Lass nur«, sagte Osama. »Ich gieße dir ein.«
»Nein, ich dir.«
»Ich bestehe darauf, es ist eine Ehre, dich zu bedienen.«
»Du bist mein Gast, also werde ich es tun.«
Ihr symbolischer Streit um die Teekanne ging noch ein wenig hin und her, bis Osama schließlich die Tasse nahm, die sein Freund ihm hinhielt.
»Es ist Zeit fürs Gebet«, sagte er. »Darf ich dich ein paar Minuten allein lassen?«
»Aber bitte!«
Osama zog die Schuhe aus, griff sich einen an der Wand lehnenden Teppich und begann zu beten. Als er sich wieder aufrichtete, fühlte er sich ruhiger.
»Ich bin gekommen, weil ich dich um etwas bitten möchte.«
»Du, der mächtige
Qoumaandaan
Kandar, solltest der Hilfe eines kleinen öffentlichen Schreibers der Aimaken bedürfen? Was ist los, Osama? Hast du Ärger?«
»Nun, ich bearbeite einen heiklen Fall, und einige Personen, darunter mein Vorgesetzter, sähen es lieber, wenn ich ihn nicht löste. Verstehst du?«
»Was soll ich tun?«
»Du sagtest mir, dass einer deiner Cousins als Gerichtsmediziner in der Türkei arbeitet. Ist das noch der Fall?«
»Qassam? Ich glaube schon. Wir haben uns im Januar gesprochen, damals arbeitete er noch in Istanbul, in einer großen Klinik. Was brauchst
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