Das Kabul-Komplott - Bannel, C: Kabul-Komplott
waren. Ein entsetzliches Schauspiel. Beim achten Leichnam blieb ihm das Herz beinahe stehen. Ein Arm ragte hervor, und das Blau der zerrissenen Lederjacke. Das Laken bildete eine seltsame Form, als läge nur ein halber Körper darunter. Langsam hob Osama es an, er wusste bereits, was ihn erwartete. Babrak lag auf dem Rücken. Der Oberkörper war intakt geblieben, aber der ganze untere Teil war in Höhe des Beckens abgetrennt. Ein Glassplitter hatte ihn am rechten Auge getroffen und war ins Gehirn eingedrungen. Er wirkte ruhig, entspannt, nur die schrecklichen Wunden bezeugten seinen gewaltsamen Tod. Osama griff nach seiner Hand. Er fühlte sich wie versteinert, konnte nur mit Mühe atmen, sein Herz krampfte sich zusammen. Babrak war wie ein Sohn für ihn gewesen. Und nun, nun war er tot. Wer hatte ein derartiges Gemetzel begehen können?
Stockend sprach er das Totengebet, dann erhob er sich, eine kalte Wut erfasste ihn. Der Leiter des Geheimdienstes schalt gerade einen seiner Assistenten, weil er noch nicht mit den Arbeiten begonnen hatte, die der Identifizierung des Märtyrers dienten.
»Reza, hast du mal eine Minute?«
»Ja …« Als er Osamas kreidebleiches Gesicht sah, verstummte er.
»Dein Assistent? Ist er unter den Opfern?«
Osama nickte.
»Er war auf der Stelle tot, ein Splitter hat ihn im Auge getroffen. Er hat nichts mitbekommen. Hast du schon was herausgefunden?«
»Ein wenig.« Reza zog Osama ein Stück beiseite. »Der Typ hat sich in die Luft gesprengt, das ist sicher. Und er agierte am Tatort offenbar allein. Der Mann von der Security, der ihn hereingelassen hat, ist auf wundersame Weise davongekommen. Er hat die Leiche anhand der Kleidung wiedererkannt – der Mann trug Jeans, einen Blouson, ein enganliegendes T-Shirt, rote Turnschuhe, westliche Kleidung also. Der Typ von der Security sagte, er habe ihn normal durchsucht.«
»Glaubst du ihm das?«
»Ja. Er ist zu durcheinander, um Lügengeschichten zu erfinden.«
»Seltsam«, sagte Osama, »der Kopf ist völlig zerfetzt.«
»Ah, das ist dir also auch aufgefallen! Was hältst du davon?«
»Er trug die Bombe also nicht um die Hüfte. Vielleicht an den Beinen oder am Rücken.«
»Das würde erklären, weshalb der Wachposten nichts gefunden hat.«
»Hat man ihn identifiziert?«
»Er hatte seine Papiere bei sich, aber die wurden bei der Explosion zerfetzt. Ich werde das Labor bitten, ob sie versuchen können, sie wiederherzustellen, aber große Hoffnungen habe ich nicht. Ich vertraue lieber auf die Fingerabdrücke und das Gesicht, beziehungsweise auf das, was davon übrig ist.«
»Er muss doch in der Vergangenheit als Taliban registriert worden sein«, meinte Osama. »Gibst du mir Bescheid, wenn du was rauskriegst?«
»Klar.«
»Darf ich dich um einen Gefallen bitten? Lass den besten Gerichtsmediziner die Autopsie machen.«
»Verstehe, du möchtest nicht, dass … Aber wen willst du dann?«
»
Daktar
Katun. Könntest du das für mich tun?«
»Geht in Ordnung. Ich rufe ihn gleich an.«
»Ich sehe mir den Körper des
Shahid
noch mal an.«
Osama ging zu dem Leichnam hinüber. Er schickte die Polizisten fort, die um ihn herumstanden. Angesichts seiner ernsten Miene entfernten sich sogar die Männer des NDS. Er zog Handschuhe über und kniete sich hin. Der Märtyrer war durch die Explosion entzweigerissen worden. Ohne den Kopf wäre es unmöglich gewesen, ihn zu identifizieren, und selbst jetzt war es schwierig. Osamas Blick verweilte auf der Hose des Mannes, einer Jeans voller Löcher, und auf seinen Schuhen. Sie waren beinahe neu, ihr helles Rot erinnerte an das überall verspritzte Blut. Trotz der Kälte trug der Märtyrer keine Socken, der Fuß starrte vor Dreck. Osama erhob sich wieder und fuhr, ohne sich von jemandem zu verabschieden, nach Hause.
In dieser Nacht schlief Osama schlecht, die Erinnerung an das entstellte Gesicht Babraks, so gelassen im Tod, verfolgte ihn. In den ersten Morgenstunden drückte ihn Malalai an sich.
»Ob das denn niemals aufhört? Das ist nicht gerecht.«
»Er war erst dreißig. Ein intelligenter und sympathischer Junge. Ein phantastischer Polizist. Für mich war er unser Sohn.«
Osama hatte Tränen in den Augen, aber er versuchte, die Fassung zu bewahren. Seine Trauer wandelte sich in Wut.
»Niemand ist mehr sicher. Überall sprengen sie sich in die Luft! Was kann man gegen diese Verrückten unternehmen, Osama? Soll man sich zu Hause einschließen?«
»Ein seltsamer Zufall, findest du
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