Das Känguru-Manifest
Känguru.
»Ja, ja«, sage ich. »Das habe ich mitgekriegt.«
»Das leerstehende Gebäude, in dem wir früher trainiert haben, wurde an einen Investor verkauft. Deshalb müssen wir uns fürs Erste hier treffen.«
»Soso«, sage ich und blicke mich um.
»Is okay, oder?«
»Wo hast du die denn alle aufgegabelt?«
»Die haben die Känguru-Chroniken gelesen«, flüstert das Känguru, wirft sich wieder in Pose und ruft: »Die dritte und letzte Regel des Boxclubs lautet: Wer einen Nazi sieht, muss ihn boxen!«
Applaus brandet auf. Applaus in Boxhandschuhen.
»Und ich werde euch beibringen, wie man boxt!«, ruft das Känguru. »Wer ist neu hier?«
»Ich!«, »Ich!«, »Ich!«, höre ich Stimmen aus allen Ecken.
»Wer von euch will boxen?«, ruft das Känguru.
»Ich!«, »Ich!«, »Ich!«, rufen dieselben Leute.
»Okay. Du da«, ruft das Känguru und springt vom Tisch vor die Füße eines großen Dicken. »Wir beide boxen jetzt. Wie heißt du?«
Noch während der Junge »Ich heiße Hol…« sagt, verpasst ihm das Känguru einen rechten Haken, und er geht zu Boden.
»Okay!«, ruft das Känguru. »Wer von euch will boxen?«
Niemand meldet sich.
»Ich habe gefragt, wer von euch boxen will!«, ruft das Känguru.
Betretenes Schweigen.
»Sehr gut!«, lobt das Känguru. »Lektion eins: Wir wollen nicht boxen. Wir müssen. Das ist ein Selbstverteidigungskurs.«
Es blickt musternd in die Runde.
»Vorletztes Mal habe ich euch beigebracht, wie ihr euch gegen einen Nazi verteidigen könnt, der euch mit einem Thor-Steinar-T-Shirt angreift«, ruft das Känguru. »Man boxt ihn. Letztes Mal habe ich euch gezeigt, wie man sich boxenderweise gegen einen Nazi verteidigen kann, der euch durch seine hässliche Visage beleidigt. Heute werdet ihr lernen, wie ihr euch gegen einen Nazi wehren könnt, der durch seine physische Anwesenheit die gute Stimmung in einem Raum runterzieht. Irgendwelche Ideen?«
Ein junges Mädchen meldet sich schüchtern.
»Ja, Melanie?«, fragt das Känguru.
»Sandra«, sagt das Mädchen.
»Wie auch immer«, sagt das Känguru. »Was ist deine Idee, Kind?«
»Man boxt ihn?«
»Völlig korrekt!«, ruft das Känguru. »Man boxt ihn.«
Es blickt musternd in die Runde.
»Du da! Willst du boxen?«, fragt es plötzlich einen Jungen.
»Wer, ich?«, fragt der Angesprochene. »Nein! Das Letzte, was ich will, ist boxen!«
»Ausgezeichnet!«, lobt das Känguru. »Sehr gut.«
»Danke«, sagt der Junge.
»Aber im Ernst«, sagt das Känguru lächelnd. »Du bist doch hier, weil du boxen willst.«
»Na ja, schon irgendwie …«
Da verpasst ihm das Känguru blitzschnell einen linken Haken, und er geht zu Boden.
»Lektion drei: Mitdenken!«
Ich gehe wieder in mein Zimmer und lege mich ins Bett. Als der Unterricht endlich vorbei ist, kommt das Känguru und setzt sich erschöpft an meinen Schreibtisch.
»Ich kriege dieses Bild nicht aus meinem Kopf«, sage ich.
»Was für ein Bild?«, fragt es.
»Wie du in einem grauen Jogginganzug, mit einer dunklen Wollmütze auf dem Kopf, deine Trainingsrunden durch die Nachbarschaft drehst, dabei auf meinem MP3-Player Gonna fly now hörst, die Treppen zum Kreuzberg hochrennst und oben deine Fäuste in die Luft reckst.«
»Ahahamuhmuhmuh«, macht das Känguru. »Ich höre dabei nicht den Rocky-Soundtrack. Jedenfalls nicht oft.«
»Ich glaube übrigens, der Trainingseffekt hält sich in Grenzen, wenn du deine Schüler immer gleich k. o. schlägst«, sage ich.
»Und ich glaube, du hast keine Ahnung vom Boxen«, sagt das Känguru.
Es steht wieder auf.
»Hilfst du mir, den Boxsack so umzuhängen«, fragt es, »dass er immer, wenn wir dagegen hauen, gegen die Wand zum Pinguin donnert?«
Wir sitzen bei Herta an der Theke.
»Ich habe letztens voll den guten Witz gehört«, sagt das Känguru.
»Ah ja?«, fragt Herta.
»Also: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sind ein Österreicher, ein Engländer und ein Franzose in einem Kriegsgefangenenlager«, sagt das Känguru.
»Was soll denn das für ein Lager gewesen sein?«, frage ich. »Ein Engländer, ein Franzose und ein Österreicher! Da stimmt doch was nicht im historischen Fundament deines Witzes.«
»Ist doch egal. Ist nur ein Witz, Mann! Jedenfalls ein Österreicher, ein Franzose und ein Amerikaner …«
»En Ami?«, fragt Herta. »Ebend war’s noch ’n Englända.«
»Gut, von mir aus ein Engländer«, sagt das Känguru.
»Ich komm einfach nicht darüber hinweg, dass einer von den Achsenmächten mit zwei Allierten
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