Das Känguru-Manifest
Känguru tippt.
»Was muss sonst noch rein«, frage ich, »in so ein Testament?«
»Ich würde als letzten Satz noch etwas einfügen wie: ›Die Geschichte wird mich freisprechen!‹«
»Ja«, sage ich. »Das ist immer gut.«
Das Känguru tippt, druckt, und wir unterschreiben.
»So. Das macht dann 500 Euro«, sagt es.
»Das war’s wert«, sage ich und gebe ihm einen Scheck über 500 Euro, den ich auf ein Blatt Küchenpapier gemalt habe. Das Känguru zögert, bevor es mir das Testament reicht.
»Was ist?«, frage ich.
Das Känguru blickt zu Boden und scharrt mit einem Fuß. Schließlich fragt es: »Findest du auch, dass Koalabären niedlicher sind als Kängurus?«
»Na ja. Na ja«, sage ich. »Also, Kängurus sind wirklich extrem niedliche Tiere.«
»Das will ich meinen«, sagt das Känguru und nickt zufrieden.
»Aber so ein Koalabär …«, sage ich. »Also … ich mein … ein gemäßigt sozialdemokratischer Koalabär … der Frontmann in einer christlichen Heavy-Metal-Band ist … also, das klingt schon enorm knuffig. Das ist auf der Skala der Niedlichkeiten schon ganz weit oben, das ist …«
»Pah …«, sagt das Känguru, geht aus dem Zimmer und wirft die Tür hinter sich zu. »Ich will gar nicht niedlich sein!«
»Ui. Wie niedlich …«
Ich stehe im überschaubaren Getümmel dessen, was sich in Berlin ein Weihnachtsmarkt schimpft, und reibe meine Hände. Das Känguru kommt von irgendeiner Bude zurück.
»Was isst du denn da Seltsames?«, frage ich.
Das Känguru zuckt mit den Schultern. »Irgendeine Art Wurst«, sagt es.
»Ja, aber was für eine Wurst?«
»Der Magen einer Sau, die Gedanken einer Frau und der Inhalt einer Worscht bleiben ewig unerforscht«, sagt das Känguru.
»Wie bitte?«, frage ich. »Wo haste denn den Spruch her?«
»Irgendwo aufgeschnappt.«
Das Känguru schiebt sich den Rest seiner Wurst in den Mund, macht einen Satz nach vorne und landet in einem vom Räumdienst aufgehäuften Schneeberg. Es kichert. In einiger Entfernung hört man einen Kinderchor singen. Das Känguru steht auf, schüttelt den Schnee aus seinem Fell auf meinen Mantel und sagt: »All diese Weihnachtslieder kommen ja so harmlos daher, aber wenn man mal ideologiekritisch rangeht …«
»O ja, bitte«, sage ich.
»Zum Beispiel Rudolph, the Red-Nosed Reindeer . Reinste Leistungsgesellschaftspropaganda.«
»Ach ja?«
»Klar. Pass auf. Die Story: Alle Rentiere machen sich über Rudolph lustig und lassen ihn nicht mitspielen, dann kommt der Weihnachtsmann und benutzt ihn als Frontscheinwerfer, und plötzlich finden ihn alle super. Moral: Nur wer Leistung bringt und eine Funktion erfüllt, hat Anspruch darauf, ordentlich behandelt zu werden.«
»Ich mag Weihnachtslieder«, sage ich. »Mein Papa hat uns immer Kling, Glöckchen, klingelingeling vorgesungen. Das fand er total witzig. Weil wir Kling heißen, verstehste?«
»Meine Mutti hat mir immer Morgen, Kinder, wird’s nichts geben! von Erich Kästner vorgesungen.«
»Kenn ich nicht«, sage ich.
Das Känguru singt mit brüchiger Stimme:
»Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte euch das Leben.
Das genügt, wenn man’s bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ist’s noch nicht so weit.
Doch ihr dürft nicht traurig werden.
Reiche haben Armut gern.
Gänsebraten macht Beschwerden.
Puppen sind nicht mehr modern.
Morgen kommt der Weihnachtsmann.
Allerdings nur nebenan.«
»Was ist los?«, fragt es plötzlich.
»Nichts«, sage ich und wische mir eine Träne aus dem Auge. »Nichts.«
»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«
Kurt Cobain
»Diese Nase ist furchtbar«, beschwert sich das Känguru. »Ich weigere mich, sie aufzusetzen.«
»Vielleicht wird es dich lehren, keine dummen Wetten mehr einzugehen«, sage ich, während wir durch den Schnee stapfen. »Außerdem wäre es noch viel bescheuerter, wenn ich das Rentier spielen würde.«
Das Känguru flucht leise und bindet sich die rote Nase um. »Das ist entwürdigend«, sagt es. »Und das Blinken irritiert mich total.«
»Aber es ist doch bald Weihnachten«, sage ich. »Da muss man doch den Leuten helfen.«
»Pah«, sagt das Känguru. »Jesus hat auch nie jemandem geholfen.«
»Ah ja?«, frage ich. »Und was ist mit dem einen Mal, wo er seinen Mantel geteilt und die eine Hälfte diesem Bettler gegeben hat?«
»Ja, das …«, sagt das Känguru. »Aber sonst?«
»Und was ist mit dem einen Mal, wo er dieses Mädchen in dem
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