Das Känguru-Manifest
Schloss aus seinem 100-jährigen Schlaf wachgeküsst hat?«, frage ich. »Und was ist mit dem anderen Mal, als er diese Arche gebaut hat?«
»Ja, das …«, sagt das Känguru. »Aber wann hat Jesus außer mit dem Mantel und der Arche und dem Wachküssen jemals jemandem geholfen?«
»Na da, wo er den Menschen das Feuer gebracht hat«, rufe ich, »und dafür von den Taliban an den Hindukusch gekettet wurde! Was ist damit?«
»Ja, das …«, sagt das Känguru.
»Oder als er in ’nem Raumschiff mit ’ner Atombombe zu dem Asteroiden, der auf die Erde zuraste, geflogen ist und sich dann für uns geopfert hat? Was ist damit?«, frage ich. »Oder nee. Das war jemand anderes. Der Typ mit Glatze.«
»Gandhi«, sagt das Känguru.
»Genau«, sage ich. »Ben Kingsley hat den doch dann gespielt. Wie hieß der Film?«
» Gandhi «, sagt das Känguru.
»Da kommt bestimmt bald ein Remake in die Kinos«, sage ich. » Gandhi 3D .«
Inzwischen sind wir angekommen. Ich werfe den roten Bademantel über, setze die rote Zipfelmütze auf, zupfe meinen Wattebart zurecht und klopfe an die Wohnungstür. Ein kleines Mädchen öffnet. Hinter ihr steht Friedrich-Wilhelm und zwinkert uns zu.
»Hohoho!«, rufe ich beim Eintreten.
Aus der Küche riecht man schon den Gänsebraten, alle Fenster sind von blinkendem Weihnachtsschmuck verdeckt, und aus der Stereoanlage erklingt Last Christmas von Wham!. Kurz bin ich versucht mitzusingen, kann mich dann aber doch beherrschen.
»Ihr habt euch wirklich toll integriert«, sagt das Känguru.
»Ist die Wohnung von meinen Eltern«, sagt Friedrich-Wilhelm achselzuckend. »Die sind gerade alle in der Kirche.«
Er drückt auf die Nase des Kängurus. Sie quiekt.
»Warum tut ihr mir das an?«, fragt das Känguru.
»Das ist die Tochter von meiner Schwester Maria-Theresia«, sagt Friedrich-Wilhelm und beugt sich zu der Kleinen hinunter. »Erzähl doch dem netten Rentier hier, was du machen möchtest, wenn du groß bist, Sissi.«
»Ich möchte Wirtschaftsrecht studieren und Anwältin werden!«, ruft Sissi.
»Oha«, sagt das Känguru und nickt. »Ich verstehe.«
Es beugt sich hinunter.
»Und was willst du danach machen?«, fragt es.
»Ich möchte in einer Unternehmensberatung als Assistant Director arbeiten.«
Das Känguru fährt wieder hoch.
»Das ist so traurig«, sagt es sichtlich entsetzt. »Diese Kinder wollen nicht mal mehr Chef werden. Ihr größter Wunsch ist es, Handlanger vom Chef zu werden.«
»Wie kommt sie denn nur auf so was?«, frage ich.
»Meine Schwester ist Assistant Director in einer Unternehmensberatung«, sagt Friedrich-Wilhelm. »Sie sucht nach juristischen Lücken in Arbeitsverträgen, die es den Firmen erlauben, Leute ohne Abfindungen rauszuschmeißen. Und nötigenfalls kreiert sie diese.«
»Hm«, sage ich.
»Wirklich gut integriert«, sagt Friedrich-Wilhelm.
»Hat sich eigentlich schon jemals jemand gefragt, ob es wirklich wünschenswert ist, dass alle so werden wie wir?«, frage ich.
Das Känguru zieht einen Flachmann aus seinem Beutel und nimmt einen großen Schluck.
Es beugt sich wieder hinunter.
»Aber Asisstant Director zu werden, kann doch nicht dein größter Wunsch sein, Mädchen«, sagt es. »Was ist dein größter Wunsch auf der Welt?«
»Ein lückenloser Lebenslauf«, sagt das Mädchen.
»Hör mal, Kind«, sagt das Känguru sehr ernst. »Das ist doch krank. Du bist sechs Jahre alt. Willst du nicht lieber so cool werden wie ich oder der Onkel Nikolaus hier?«
»Du meinst arbeitsloser Kommunist oder Kleinkünstler mit abgebrochenem Philosophiestudium?«
»Verdammt«, sagt das Känguru und richtet sich auf.
»Tja, ja«, sagt Friedrich-Wilhelm. »Die kleine Anwältin schlägt sich gut im Kreuzverhör.«
»Ich habe mein Philosophiestudium zweimal abgebrochen«, sage ich. »Darauf lege ich Wert. Ich habe Philosophie studiert, dann habe ich es abgebrochen und was anderes studiert, dann habe ich wieder ein Philosophiestudium angefangen, und dann habe ich es noch mal abgebrochen. Ich finde, das passt sehr gut zu einem Philosophiestudium.«
»Das interessiert hier keinen«, sagt das Känguru.
»Auch das passt sehr gut zu einem Philosophiestudium«, sage ich.
Das Känguru nimmt noch einen Schluck aus seinem Flachmann. Wenn es so weitermacht, leuchtet seine Nase bald von alleine. Es widmet sich wieder dem Mädchen.
»In Anbetracht deines Alters scheint es mir entschuldbar, dass du dich mit der Kritischen Theorie anscheinend noch nicht en détail
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