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Das Känguru-Manifest

Das Känguru-Manifest

Titel: Das Känguru-Manifest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Uwe Kling
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schon seit einigen Jahren – zuerst unfreiwillig, aber dann immer interessierter – die Evolution des Spams. Quasi von ›Ficken bis der Arzt kommt‹ über ›Wieder mehr Steifheit in der Hose‹ bis hin zu meiner neuen Lieblingszeile: ›Die Weggefährtin im Triebleben mit mehr Engagement überzeugen‹, und ich muss sagen, mir gefällt die Richtung, in die die Autoren mit der neuen Staffel gehen. Es ist, als ob die Spam-Mail-Schreiber mit den Leuten an den Spam-Filtern Tabu spielen würden.«
    »Wer umschreibt, der bleibt«, sagt das Känguru.
    »Und da immer mehr eindeutig sexuell aufgeladene Worte auf dem Index landen, also dafür sorgen würden, dass die Spam-Filter einschreiten, werden die Spam-Mails immer lyrischer und rätselhafter. Ich bin so begeistert von diesem Spiel, dass ich eigene Vorschläge einreichen möchte. Pass auf: ›Beim Vollzug des Beischlafes die Gemahlin durch gesteigerte Manneskraft betören‹.«
    »Die Lebensgefährtin verzücken beim Reproduktionsakt«, sagt das Känguru.
    »Die Eva unter dem Apfelbaum wieder erkennen«, sage ich.
    »Das ist mir zu biblisch«, sagt das Känguru. »Wie wär’s mit: ›Die Maid durch Unbiegsamkeit in Sinnestaumel versetzen‹?«
    »Schön«, sage ich. »Und jetzt aufgemerkt. Ein Meisterstück:
    Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.«
    »Das klingt ja schon wie Goethe!«, sagt das Känguru.
    »Das ist von Goethe«, sage ich.

»Das ging aber schnell«, sagt das Känguru. Tefkabh , The Eckkneipe formerly known as ›Bei Herta‹, ist einem Café gewichen, das ganz groß mit vier magischen Buchstaben wirbt: W. L. A. N. Es nennt sich Hafen der digitalen Bohème .
    »Angeblich hat ein Nachbar ständig wegen Lärmbelästigung das Ordnungsamt gerufen«, sage ich.
    »Und ich habe auch ’ne Vermutung, welcher Nachbar das gewesen sein könnte«, sagt das Känguru. »Er steht auf Teewurst!«
    Es sieht leicht genervt aus. Ein kleines Kind springt auf seinem Schwanz umher, ein anderes klettert seinen Rücken hinauf und versucht, sich an der Halskrause hochzuziehen. Die dazugehörigen Väter sitzen von drei kolossalen Heizpilzen beschirmt bei minus fünf Grad im T-Shirt draußen vor dem Café.
    »Ich habe ja jetzt den Zuschlag für das Design von den Wahlplakaten der Grünen bekommen«, sagt der eine.
    »Super«, sagt der andere. »Dann haste ja gleich wieder was, wenn wir mit dem Relaunch der RWE-Website fertig sind.«
    »Ja«, sagt der Erste. »Aber erst muss das Babyprojekt noch durch.«
    Neben den beiden sitzt eine 50-Jährige und stillt ihren
4-jährigen Sohn. Ich kratze mich am Kopf.
    Das Känguru zieht ein Babyprojekt, das in seinen Beutel gekrabbelt ist, wieder heraus und drückt es einem Vater in den Arm.
    »Es ist kein Wunder, dass die Kinder alle so nervig sind, wo doch die Eltern alle so nervig sind«, sagt es.
    Ich öffne die Glastür, und wir stolpern ins Café hinein. Alle Tische sind besetzt.
    »Muss denn in dieser Stadt wirklich niemand mehr arbeiten gehen?«, rufe ich verärgert.
    Achtzehn Köpfe erheben sich von achtzehn Laptops und rufen: »Wir arbeiten doch!«
    »Ja, ja«, sage ich. »Was arbeitet ihr denn?«
    »Wir bleiben in Kontakt!«, ruft der Chor.
    »Alle kennen und nix können«, sagt das Känguru.
    »Alexander, Anna, Jan, Sandra, Sarah, Martin, Daniel, Nadine, Jennifer, Michael, Katharina, Katrin, Christian, Stefanie, Julia, Sebastian, Sebastian und Sebastian gefällt das«, ruft der Chor.
    »Schnauze«, ruft das Känguru.
    Ich hole mein Diktiergerät aus der Manteltasche und sage: »Die Glasfront des Cafés ist geöffnet, und die aufgeheizte Luft von draußen zieht wie ein Föhnwind durch den Hafen der digitalen Bohème, in dem die Werbefachleute, die Praktikanten und die Selbstausbeuter auf einen Kaffee anlegen, bevor sie wieder in die unendlichen – wenn auch meist sehr flachen – Weiten der globalen Datenströme abtauchen. Nietzsche kommt einem in den Sinn: ›Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken könnte … So klingt unsere Klage – hinweg über flache Sümpfe.‹ Nun. Hier ist es nicht.«
    Das Känguru blickt mich besorgt an.
    Ich trete zu einer Frau, die allein mit ihrem Notebook an einem großen Tisch sitzt.
    »Dürfen wir uns dazusetzen?«, frage ich.
    »Es ist ein freies Land«, sagt die Frau.
    »Na«, sagt das Känguru, »daaa bin ich aber anderer Meinung.«
    Es setzt sich trotzdem.
    »Soll ich dir diese Meinung erläutern?«,

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