Das Kainsmal
Wutbewältigungskurse und nahmen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Sie meditierten in Zen-Zentren oder machten kognitive Gesprächstherapien, um mit ihrer immer weiter zunehmenden Wut fertigzuwerden. Sinnlose Sachen wie Atemübungen und kreative Visualisierung. Sie machten diesen ganzen Mist, bis sie eines Tages nicht bloß auf der falschen Seite des Betts aufwachten, sondern sich in Krämpfen wanden, ein Würgegefühl im Hals hatten, und die Beine waren vielleicht schon halb gelähmt - sie waren zum Sabberer geworden. Als Nächstes sah man sie auf der Straße herumtorkeln, erfasst von den Überwachungskameras: acht Uhr, die Morgensperrstunde, kümmerte sie einen feuchten Dreck.
Dr. Phoebe Truffeau (
Epidemiologin): Es gab einen historischen Präzedenzfall. In dem Krieg, den England und Frankreich 1763 um nordamerikanische Territorien führten, hielt es die Mehrheit der indianischen Bevölkerung mit den Franzosen. Vorgeblich als Geste des guten Willens lieferten die Engländer den Ureinwohnern Decken, die aber zuvor in Lazaretten für Pockenkranke benutzt worden waren. Ohne natürliche Widerstandskräfte gegen das Variolamajor-Virus kamen dadurch zahllose Indianer ums Leben.
Galton Nye (
Stadtrat): Die Tollwut-Epidemie war eine Tragödie. Und ist noch immer eine menschliche Tragödie schwindelerregenden Ausmaßes. Mir blutet wirklich das Herz, aber Sie müssen verstehen, dass wir alles unternehmen mussten, damit die Krankheit auf den nächtlichen Teil der Bevölkerung beschränkt blieb. Die so genannten Nachtgänger. Schadensbegrenzung war das Stichwort.
Aber, bitte, von einem vorsätzlichen Völkermord kann wirklich nicht die Rede sein.
Neddy Nelson: Habe ich das noch nicht erzählt? Wie mir einmal ganz am Ende des Fensters, keine Stunde vor der Morgensperrstunde, so ein Hai in mein rechtes Hinterrad gekracht ist? Hat man Sie schon mal so hart erwischt, dass Ihr Achsschenkel zerbröselt ist? Wissen Sie, was für ungeheure Kräfte auf so einen Achsschenkel aus gehärtetem Stahl einwirken müssen, bevor der auch nur einen Kratzer bekommt? Wundert es Sie da, dass mein Kopf bei diesem Aufprall ans Steuer geknallt ist und ich ein paar Stunden bewusstlos war?
Galton Nye: Wir hörten davon, mit welcher Entschlossenheit manche Nachtgänger planten, die Infektion über die Zeitgrenze hinaus zu verbreiten. Politische Radikale, die aus Frustration den Taggängern vorwarfen, sie benutzten die Epidemie, um die Geburtenrate der Nachtgänger und damit ihren unvermeidlichen, wie sie es nannten, Aufstieg zur Mehrheitspartei zu torpedieren.
Jayne Merris: Die Verkehrsüberwachungskameras zeigten, wie die Sabberer sich durch die Straßen schleppten: ein Bein nachziehend, geifernd die Zähne fletschend. Menschen, die einmal Ehefrauen, Väter oder gar kleine Kinder gewesen waren - lungerten jetzt mit irren Blicken auf öffentlichen Toiletten und in den Anprobekabinen der Kaufhäuser herum, und alle hatten sie nur ein einziges Ziel: ihre triefenden Zähne in einen Mitmenschen zu schlagen.
Neddy Nelson: Wissen Sie, welche Haie immer besonders brutal zugeschlagen haben? Welche Spieler als Einzige so dämlich waren? Schon mal von Sabberern gehört? Kennen Sie Leute mit Tollwut im Endstadium, diese grenzenlose Wut? Können Sie sich vorstellen, dass die immer noch bei Crash-Partys mitmachen? Verstehen Sie jetzt, warum die Crash-Partys irgendwann zu äußerst unschönen Veranstaltungen wurden?
Dr. Phoebe Truffeau: 1932 wurden bei einer von der Regierung in Auftrag gegebenen Untersuchung annähernd vierhundert afroamerikanische Männer als Träger von Syphilis identifiziert. Statt etwas gegen die Krankheit zu unternehmen, ließen die verantwortlichen Forscher zu, dass sie sich vierzig Jahre lang weiter ausbreitete. Sie wollten die Übertragungswege erforschen und die Opfer in Langzeitstudien beobachten. Diese regierungsamtliche Gesundheitsstudie, bekannt als »Tuskegee-Experiment«, wurde erst 1972 eingestellt, nachdem ein Nestbeschmutzer dem Washington Evening Star einen Hinweis gegeben hatte.
Galton Nye: Wir mussten vorsichtig sein. Alle früh Erkrankten wurden in die Nachtstunden verbannt. Infektionen, die bei Tageslicht übertragen worden waren, konnten in aller Regel auf direkten Kontakt mit Nachtgängern zurückgeführt werden. Da viele dieser Interaktionen heimlicher Natur waren - meist ging es um illegale Drogen und intime Verhältnisse -, verging oft viel Zeit, bis die infizierten Taggänger
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