Das kalte Gift der Rache
Ich muss mehr üben.«
Uriel war wieder an der Reihe, und er schoss einen weiteren Pfeil auf die Brust des Mannes ab, die Einschussstelle sehr nahe an der ersten. Offenbar war nun die Lunge schwer getroffen, denn die Schreie des Mannes gingen in ein seltsam atemloses Gurgeln über. Gabriel bereitete seinen nächsten Pfeil vor.
»Bitte, bitte, hört auf«, keuchte der Mann unter Tränen. Er blutete schwer und atmete so angestrengt, dass sie ihn kaum verstanden. Er war stattlich und mit seinen über eins achtzig zu kräftig, als dass sie seinen Körper mit ihren Pfeilen direkt durchbohren konnten.
Sie schossen abwechselnd einen Pfeil nach dem anderen, bis ihre Köcher leer waren, jeder von ihnen ungefähr ein Dutzend Giftpfeile, aber der verirrte Jäger war schon sehr viel früher tot. Dann schlangen sie ein Seil um seinen Hals, zogen ihn heraus und wuchteten ihn hoch auf einen Baum hinauf, damit die Bussarde sein Fleisch bis auf die Knochen abnagen konnten. Niemand würde ihn finden, nicht hier draußen auf dem Land von Uriels Großmutter. Sie konnten dort tun und lassen, was und wann immer sie wollten, also entzündeten sie ein Feuer direkt unter der Leiche und brieten sich Würstchen zum Abendessen.
18
Als ich im Dämmerlicht des anbrechenden Tages erwachte, spürte ich eine warme Zunge im Ohr und murmelte: »Bitte, Black, es reicht.«
Als Black wie ein Hund winselte, drehte ich mich nach ihm um und bekam einen weiteren feuchten Kuss auf die Nase. Ja, es war mein Weihnachtspudel, den wir Jules Verne getauft hatten.
»Hör auf, Schluss damit jetzt!« Das niedliche kleine Ding stand erwartungsvoll auf der Bettdecke und wedelte wie verrückt mit dem Schwanz. Okay, der Hund ist also nett, vielleicht sogar süß in den Augen mancher Frauen, die nicht zufällig gerade Mordermittlerinnen sind, aber das Wort süß hatte ich noch nie in meinem ganzen Leben benutzt, nicht einmal für kleine Babys, und würde auch jetzt nicht damit anfangen.
Ein Blick auf den Wecker sagte mir, dass es sechs Uhr war, morgens wohlgemerkt. Offenbar galt für den Hund noch Pariser Töpfchenzeit. Seinen Jetlag müsst er also überwinden, wenn er bei mir im Haus leben wollte. Auch Black befand sich noch in französischen Zeitzonen. Er hatte ein Kissen über dem Kopf und war im wörtlichen Sinn total weg. Mit einem Arm hielt er es fest, zur Warnung an mich und Jules Verne, ihn bloß nicht wach zu lecken. Black hatte genügend Weihnachtsfreuden gehabt, nahm ich an. Gassigehen blieb mir vorbehalten.
Jules Verne trippelte theatralisch am Fußende des Betts auf und ab, als würde er allen Mut für einen Sprung in den Grand Canyon zusammennehmen. Schließlich sprang er doch, landete mit sanftem Plumps auf dem Parkett und tapste zur mit Teppich ausgelegten Treppe. Er fiepte leise, musste offenbar dringend. Dann hörte ich ihn mit seinen Krallen auf dem Küchenboden hin und her flitzen und winseln. Du meine Güte, Black hatte vergessen, eine Hundetür einzubauen.
Ich schlüpfte wenig begeistert aus dem warmen Bett, zog eilends meinen roten Fleece-Bademantel über und stieg in die flauschigen Delfinhausschuhe aus blauem Plüsch, die mir meine Tante Helen zu Weihnachten geschickt hatte.
Jules saß nun vor der hinteren Terrassentür und sah mir, als ich auf ihn zuwatschelte, mit einem hochmütig vorwurfsvollen Gesichtsausdruck entgegen. Wer, frage ich da, ist hier dressiert? Er oder ich?
»Mach dich auf was gefasst, Kleiner, von heute an wirst du nicht mehr geschoren. Ein Hund mit Püschel am Schwanzende kommt für mich nicht infrage. Du siehst lächerlich aus. Und dieses affige, paillettenbesetzte Halsband kommt auch weg. Du brauchst so ein Teil mit Dornen. Und mit dem entsprechenden Blick, Jules, nimmt jeder Rottweiler Reißaus.«
Er wedelte mit dem Schwanz und schoss hinaus, kaum dass die Tür offen war. Dann sah ich nichts mehr als besagten Püschel, der sich langsam durch vierzig Zentimeter bis dato jungfräulichen Schnees pflügte. »Hals und Beinbruch, Kleiner, und willkommen am Nordpol.«
Es schneite schon wieder. Weiße Weihnachten bekam heuer am Ozarks-See eine völlig neue Bedeutung. Irgendwer da oben musste den Schalter umlegen und die Bremse anziehen.
Während Jules Verne sein Geschäft erledigte – vielleicht sollte ich ihn J. V. nennen –, wandte ich mich um und griff zur Fernbedienung, um das Kaminfeuer zu entfachen. Ja, die Gasscheite entwickelten sich rasch zu meinem Lieblingsgeschenk. Ich stellte die Kaffeemaschine an und
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