Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Gemüsebrühe getrunken hatte, ließ ich im Regal zurück. Sie dampfte noch nach, obwohl schon keine Flüssigkeit mehr darin war.
In der Küche öffnete ich die Konservendosen und schnitt alles klein, was ich gefunden hatte. Ich dachte, wenn man alles zusammen nur lange und stark genug erhitzen würde, wenn es etwas Warmes ergäbe, was wir dann in unseren Mägen hätten, das wäre schon gut. Ich gab viele Gewürze dazu und briet alle Zutaten in einer großen Pfanne an, bis überall eine hellbraune Kruste zu sehen war. Dann rief ich nach Richard in den oberen Stock. Mit etwas zu viel Zurückhaltung in der Stimme, aber doch laut genug. Nach einer Weile kam er herunter und rutschte auf einen der Stühle am Esstisch, an dem er dann saß wie einer, der gerade eine hochkonzentrierte Arbeit unterbrochen hat, zu der er nach kurzer Pause wieder zurückkehren würde.
Wir aßen ohne zu sprechen. Es schmeckte fürchterlich. Ich sagte zu Richard: Das schmeckt ja fürchterlich, und er nickte und stach mit der Gabel in ein schrumpliges Kartoffelstück.
Wie schon am vorigen Abend an der Haustür kam er mir wach und aufmerksam, irgendwie auch neugierig vor, vor allem aber sehr ernst. Er schaute mir kaum ins Gesicht, sondern aß gründlich und geduldig seinen Teller leer. Ich suchte meinen Kopf ab nach einem Gespräch, das ich zwischen uns anfangen könnte. Wenn ich mir aber dachte, ich frage ihn, woher er kommt, was mit meinen Eltern passiert ist, was er überhaupt macht, ob er zur Schule geht, ob vielleicht gerade Ferien sind, dann kam mir alles schon wieder so seltsam unangebracht vor. Es lag auch etwas Nervöses in seiner Aufmerksamkeit, man merkte gleich, dass er leicht zu verärgern und zu verscheuchen war durch eine dumme Frage oder einen Kommentar.
Ich hatte Angst vor meiner Stimme, die im Raum verhallen würde ohne Antwort. Am liebsten wollte ich abwarten, bis er sich von selbst dazu entschließen würde, mit mir zu sprechen. Mir wäre alles recht gewesen. Ich wollte mich da schon ganz nach ihm richten.
Ich bemerkte auch, wie es mich betroffen machte, dass er dieses zusammengeschmissene Essen so klaglos aufaß. Obwohl es ja gar nicht meine Schuld war, dass niemand eingekauft hatte. Ich wollte in den Ort gehen und ein paar Dinge besorgen. Ich fühlte eine starke Verantwortung dafür, die Zustände zu verbessern.
Nachdem wir beide unsere Teller leer gegessen hatten, saßen wir immer noch schweigend auf unseren Plätzen. Richard hatte seine Handflächen unter die Oberschenkel geschoben und baumelte unter dem Tisch mit den Beinen. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und auf seiner Stirn waren sogar ein paar Falten zu sehen. Ich wusste nicht, ob ich ihm jetzt sagen durfte, dass er aufstehen kann, dass ich die Sachen aufräumen und spülen würde. Auf jeden Fall kam es mir so vor, als sei es jetzt meine Aufgabe, die Situation aufzulösen, für die ich ja schließlich auch verantwortlich war. Irgendetwas wollte ich noch tun. Aber alles, was ich sagen wollte, alle Gedanken, kamen so unheimlich langsam hervor, dass sie in meinem Kopf schon längst von Zweifeln und Unsicherheit niedergedrückt waren, bevor ich sie hätte aussprechen können.
Neben der Couch sah ich meinen Rucksack stehen und erinnerte mich an die Tageszeitung und die Luftbildaufnahme, die ich im Hotelzimmer angeschaut hatte. Ich holte den Rucksack an den Tisch, zog die Zeitung daraus hervor und zeigte Richard die Seite. Ich sagte, was ich mir dabei gedacht hatte und dass ich schön fand, wie das aussah, von oben. Richard nahm das Bild und legte es vor sich auf den Tisch. Er schaute es lange und konzentriert an. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er irgendeinen Sinn darin entdecken konnte, vor allem nicht in dem, was ich dazu zu sagen hatte, aber es kam mir zumindest nicht vollkommen dumm vor, und ich konnte ihm eine Weile dabei zusehen, wie er auf die Seite schaute, als würde er in der Zeitung lesen. Sein Gesicht sah dabei viel weniger streng aus, das gefiel mir gut. Ich dachte: Er sieht etwas Neues. Und das fühlte sich richtig an. Dass das etwas mit mir zu tun hatte. Mir wurde ganz warm, eine kleine Euphorie, und ich blätterte weiter in der Zeitung, um vielleicht noch mehr darin zu finden, was ich ihm zeigen konnte. Es gab aber keine schönen Abbildungen mehr. Nur noch viel Text und Schwarz-Weiß-Fotografien von Politikern, die sich vor schlaffen Fahnen die Hände drückten.
Irgendwo auf einer der letzten Seiten der Zeitung verfing sich mein Blick in
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