Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Rednerpult oder die Leinwand gestarrt hat, während um ihn herum schon zusammengeräumt wurde.
Ich glaube, sagt er, das war meine Art von Zustimmung. Ich konnte nie einfach so aufstehen und rausgehen in die Welt und alles anerkennen wie vorher. Es ging aber genauso wenig, aus dem Vortragssaal rauszupoltern und zu versuchen, etwas vom Gehörten in die Tat umzusetzen. Es war ja immer Theorie gewesen, und ich habe auch immer deutlich gespürt, dass der Theorie die Starre am deutlichsten entspricht. Wenn ich dann doch rausgegangen bin aus der Universität, sind mir die Dinge für eine Weile immer sehr schwergefallen. Ich musste mich zum Beispiel immer fragen, was das bedeutet, wenn man mich am Bahnsteig durch die Lautsprecher dazu aufgefordert hat, bitte zurückzubleiben.
Ich glaube, sagt er, ich bin mir in meinem ganzen Leben nie wieder so unpraktisch vorgekommen.
Ich weiß nicht, ob ich ihn da richtig verstanden habe, aber ich nahm diese Geschichte als Hinweis auf, dass er sich jetzt bald wieder seinen Aufträgen zuwenden musste, bat Richard seinen Tee auszutrinken und sagte zu Helbig, wir würden ihn jetzt nicht mehr länger abhalten.
Wir standen alle auf, Helbig sagte nicht, dass wir bleiben sollten, vielleicht hätte er auch nichts dagegen gehabt, es war nicht zu klären. Er lief voran durch die Küche, und ich weiß nicht, ob es vom schnellen Aufstehen gekommen ist, von einer Unsicherheit vielleicht oder doch von einem Schwindel, jedenfalls musste er sich auf dem Weg in die Werkstatt am Türstock festhalten und mir fiel plötzlich auf, dass er sich beim Gehen auf jeden Schritt konzentrierte wie ein Betrunkener oder ein sehr alter Mann. Ich fragte ihn, ob alles in Ordnung sei und wollte fast schon seinen Oberarm greifen, aber er sagte nur: Ja. Das geht eben so. Aber vielleicht kennen Sie das ja: Ich liege immer schon vor mir selbst auf dem Boden, bevor ich richtig stürzen kann.
Dann lachte er kurz auf, weil er sehen konnte, dass auch Richard etwas besorgt aussah, sagte: Das gilt bestimmt auch im übertragenen Sinn, selbst wenn ich mir jetzt nicht so sicher bin, was das heißt.
Jedenfalls, sagte er, als wir auf eine komische, vorsichtig hinter ihm her schleichende Art bis zur Haustür gekommen waren, sollten Sie Ihren Eltern liebe Grüße bestellen. Vielleicht wollen die beiden das nächste Mal ja auch mitkommen.
Richard zupfte an meinem Ärmel, ich sah ihn nicht an, versuchte das Zupfen zu ignorieren und auch den kloßigen Überdruck in meinem Hals und in den Augenwinkeln. Ich sagte zu Helbig: Ja, das mache ich, mal sehen, vielen Dank, auf Wiedersehen, bis bald und Ihnen noch einen schönen Tag.
Eine Weltmeisterschaft im Eisskulpturenschnitzen habe ich aufgenommen, es muss sich um das Finale gehandelt haben. Zwei Männer in Flanelljacken arbeiteten gegen die fortlaufende Zeit mit ihren Motorsägen an großen Blöcken, bis der eine ein startendes Tupolew-Überschallflugzeug im Augenblick des Abhebens von der Erde und der andere ein schnüffelndes Zwergkaninchen in kauernder Haltung fast zeitgleich fertig stellten. Noch vor der Juryentscheidung und der anschließenden Preisverleihung wurde das Signal wieder sehr schwach.
Nachdem Helbig die Tür hinter uns geschlossen hatte, packte ich Richard an der Hand, etwas zu grob vielleicht und zog ihn hinter mir her durch den Garten und vor zur Straße. Er stolperte ein paar Mal, machte sich schwer und fing an zu quengeln, ich ließ ihn aber nicht los, lief auch nicht langsamer, zog ihn bis zur Hauptstraße, rechts auf den Bürgersteig in Richtung Zentrum. Er versuchte, mir hinten in die Beine zu treten, verlor dabei aber das Gleichgewicht.
Ich zog ihn hinter mir her bis zur kleinen Kapelle an der Hauptstraße, durch das Tor, an den Gebäuden vorbei auf den Friedhof, der Abend war schon fast vollständig über den Ort hereingebrochen, das Licht dunkelblau, gerade noch genug, um die Namen auf den Gräbern zu entziffern.
Ich schleifte Richard durch die Reihen, vor jedes einzelne Kreuz und jeden Stein, vor die Namen aller Toten aus dem Ort, vor die Namen Dabelstein, Pullert, Beckmann, Schlesinger, Wehrkamp, Abeling, Mayer-Martinez, Leubhuber, Tietjen, Gleichauf, Ziegelwanger, Schmitz, Fricke, Jäger, Oderwald, Überwasser, Kwittek, Venegas, Gardner, Bingart, Bogutzky, Rasp, Negoi, Jann, Hong, Nestmann, Schürrle, Nolte-Kraul, Akuscheska, Gub, Nöllinger, Schmid, Almosdorfer, Eggerz, Grambow, Ihnali, Schuhricht, Dantinger, Yaziroglu, Nedwenjov, Macke, Friedrich,
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