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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
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    Meine Familiengeschichte, das hat Helbig einmal gesagt, oder vielleicht habe ich es in einem Buch über einen französischen Schriftsteller gelesen, ist eine Geschichte der Ohnmacht gegenüber dem Leben. Oder ein Leben in Ohnmacht. Ich versuche mich zu erinnern, als ich auf dem Friedhof sitze, aber es gelingt mir nicht.

Abb. 19

Den ganzen nächsten Tag lang sehe ich Richard kein einziges Mal. Ich gehe nicht raus, sitze herum und warte, koche, räume ein an sich schon ganz ordentliches Wohnzimmer auf, die Küche, den Flur, ich sortiere Vorräte im Keller auf eine übertrieben gründliche Art, reinige das Ascheschaff aus dem Ofen und auch die Öffnung, in die es geschoben wird.
    Richard holt sich nichts aus der Küche, nicht mal ein Glas Wasser. Ich weiß ja, dass er lange Zeit ohne Essen auskommt, fange aber trotzdem an, mir Sorgen zu machen, dass er vielleicht gestürzt ist oder gelähmt aufgewacht und wartet, hofft, dass ich hochkomme und ihm helfe.
    Ich gehe an den Wänden entlang und schaue mir jedes einzelne Bild an. Ich habe sie alle tausendmal gesehen, die Malereien meiner Mutter, Fotografien von Landschaften, ein immerwährender Regenbogen über einem Wasserfall in Afrika, eine hellblau angestrichene Holzhütte in einer Art Geröllfeld, vielleicht auch an einem ausgetrockneten Flussbett, eine große, rötlich braune Schlucht und davor, an einem metallenen Geländer, bunt gekleidete Menschen mit Fotoapparaten.
    Mir fällt an diesem Tag zum ersten Mal auf, dass sich unter all diesen Bildern kein einziges Foto von mir befindet. An keiner Wand im ganzen Haus.
    Nur noch so viel, sage ich zu Richard, als ich später am Abend mit ihm am Esstisch sitze. Ich hatte schon ein sehr deutliches Gefühl davon, dass mir die Zeit für diese Erzählung irgendwie davonlief, ausging, als schließe sich eine Tür. Richard piekste mit seiner Gabel in einem missratenen Hühnerfrikassee herum und ich machte eine unsinnig lange Pause, ein kleines Zeichen hätte ich gerne gehabt, das aber nicht kam, und dann erzählte ich ihm, wie am 27. Juli 1960, vormittags um 10.45 Uhr, der Hubschrauberpilot Robert Meyer, auf einem Transferflug der Chicago Helicopter Airways, zwischen den Flughäfen Midway und O’Hare, einen Triebwerksschaden an seiner Maschine feststellte und sofort nach einem geeigneten Ort Ausschau hielt, um notzulanden.
    Ein Triebwerksteil fing Feuer, die brennende Maschine begann zu schlingern und zu taumeln und überflog, als sie auf diese Weise beinahe schon am Abstürzen war, gerade den Stadtteil Forest Park in der westlichen Peripherie.
    Robert Meyer spähte durch das Cockpitfenster in großem Stress, dann entdeckte er zwischen den Häusern und Straßenzügen eine freie Fläche, den Waldheim Friedhof, und ich frage Richard, ob er sich noch erinnern kann, wie ich ihm erzählt habe, dass dort, gut siebzig Jahre zuvor, Louis Link und die anderen Verurteilten beerdigt worden waren, aber Richard schaut mir nur kurz in die Augen, als hätte er selbst eine Frage gestellt.
    Meyer, sage ich, lenkte den kaum mehr unter Kontrolle zu haltenden Hubschrauber in Richtung der Bäume und Rasenflächen, wo er schließlich aufschlug und mitsamt seinen Insassen in hoch aufschießenden Flammen verbrannte.
    Es blieb ein Krater zurück, wo vorher noch Gräber gewesen waren, und in den folgenden Tagen sah man häufig die Angestellten der Friedhofsverwaltung, aber auch Angehörige der Toten, deren Gräber sich im Umkreis des Unglücks befunden hatten, wie sie einzelne Steinbrocken vom Boden oder aus dem verkohlten Loch auflasen, ratlos in den Händen hin und her rollten und sich langsam der Tatsache bewusst wurden, dass hier keiner mehr die Reste dessen, was man den Verstorbenen einmal hingestellt hatte zur Erinnerung, auseinander halten konnte.
    Ein großer Haufen, erkläre ich Richard, wurde aufgetürmt und später in einem Container abtransportiert. Zum Teil wurden die Grabmale von den

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