Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Kälte wächst in dieser Nacht aus dem Boden und durch die Sohlen meiner Stiefel. Irgendwann wird dieses verästelte Kältegewächs das System meiner Adern ersetzt haben, denke ich auf meinem Weg, ein von unten in die Glieder eindringendes Wurzelwerk, vom kalten Planeten in meinen warmen Körper ausgestreckt. Das ist aber sinnlos, finde ich dann, es gibt dafür keinen Grund.
An der Hauptstraße sind alle Ampeln schon außer Betrieb. Ein gelbes Kästchen für blinde Fußgänger summt kaum hörbar einen durchgängigen Ton. Außerdem ist ein leises Knacken vernehmbar, in den Eisflächen auf dem Bürgersteig und im Rinnstein. Ich denke an Wasserfälle in den Gullys und Schächten, die im Fallen erstarrt sind und so in der Kanalisation stehen als Eiswände von großer Schönheit. Ich habe plötzlich das Bedürfnis, in einen der Kanäle hinabzusteigen und mir das anzusehen, aber ich weiß schon, dass ich die festgefrorenen Deckel nicht anheben kann. Mit dem nötigen Werkzeug nicht und schon gar nicht mit meinen Händen.
Ich habe eine Eiskunstläuferin aufgenommen, werde ich Richard erzählen, denke ich, die nach einer sicherlich sehr anstrengenden Kür zum Stehen kommt, mit den Kufen ihrer Schlittschuhe eine scharfe Kurve in die Eisfläche kratzt und die Arme in die Luft streckt, die Hände angewinkelt, ein starres Lächeln und weit aufgerissene Augen im Gesicht und darunter ein Brustkorb, der sich hebt und senkt und in dem ein angestrengtes Herz wild schlägt.
Am Gartentor sehe ich, dass Richard einen Versuch unternommen hat, den Weg zur Haustür zu räumen. Es sind ein paar Spuren zu sehen, an einigen Stellen ist die Schneedecke aufgeschoben zu kleinen Häufchen und überall sind Richards Fußabdrücke zu sehen. Die Schaufel hat er dann im Frust in den Garten geworfen, und ich musste mich auf den hohen Schneewall am Wegrand legen, um sie mit meinem ausgestreckten Arm zu fassen zu kriegen.
Im Haus sehe ich kein Licht. Nicht im Flur und nicht in der Küche und nicht im oberen Stock und als ich meine Schuhe ausgezogen und den Mantel an den Haken gehängt habe, wobei ich mir sehr viel Zeit ließ, vielleicht in der Hoffnung, ich würde etwas hören oder sehen, gehe ich ins Wohnzimmer, wo ich Licht mache.
Der Ofen ist kalt. Den ganzen Tag, das fühle ich, als ich meine Hand auf das Metall lege, hat hier kein Feuer gebrannt.
Die Abfüllanlage einer Großbrauerei ist am nächsten Tag für alle Ortsbewohner auf den Videokassetten zu sehen, ein langes Förderband voll laut gegeneinander schlagender Flaschen und dazwischen zwei Arbeiterinnen mit weißen Overalls und gelben Gummihandschuhen, die Ohrenschützer tragen und die einzelnen Flaschen stichprobenartig auf Schäden untersuchen.
Ich erinnere mich an einen geöffneten Videorekorder in der Werkstatt, den Herr Letterau auf die Funktion seiner Mechanik überprüft hat. Der eingeschobenen Kassette wurde vorn die Klappe hochgedrückt, dann kamen ein paar silberne Stifte angefahren, die das Band aus dem Gehäuse herauszogen und an schnell rotierende Abtastköpfe heranführten.
In der Küche legte ich meine Hände flach auf die Herdplatten. Ich wusste schon, dass sie kalt sein würden. Ich kochte Wasser für eine Kanne Tee, ging in den ersten Stock und klopfte laut und vernehmbar an Richards Tür. Dann ging ich wieder ins Wohnzimmer und machte ein Feuer im Ofen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit brauchte ich zwei Anläufe, bis das Feuer schließlich brannte und zwischendurch musste ich die halb angekokelten Holzscheite wieder aus dem Ofen herausnehmen, die abgebrannten Papierreste mit dem Schürhaken zerstoßen und durch den Rost schieben.
Es roch dann im ganzen Wohnzimmer nach Qualm und nach diesem gescheiterten Versuch. Ich setzte mich an den Esstisch mit einem Buch, auf das ich mich nicht konzentrieren konnte, dann rollte ich eine Weile lang einen Apfel zwischen meinen Händen auf der Tischplatte hin und her, bis er davon überall braune Stellen bekam. Ich war nicht hungrig und hatte überhaupt keine Lust, mir etwas zu kochen. Noch viel weniger Lust hatte ich, alleine zu essen.
Ich ging nochmal nach oben und klopfte fest gegen Richards Zimmertür, obwohl ich ja schon wusste, dass er nicht zu Hause war. Unter dem Türspalt war auch kein Licht zu sehen.
Eine Kanusportgruppe, die auf einem begradigten Flusslauf in schnellen Schüben entlangzieht. Das rhythmische Plitschen der Ruder auf der Wasseroberfläche, Megafonrufe vom Ufer aus, wo der Trainer auf einem Tandemrad
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