Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Hinterbliebenen ersetzt und ihrer Erinnerung entsprechend ungefähr dort wieder aufgestellt, wo man in den Jahren zuvor andächtig gestanden oder einen Blumenstrauß abgelegt hatte.
Vom Rest, sage ich, lässt sich behaupten, er sei dann endgültig verschwunden.
Richard schiebt seinen Teller von sich weg, wie eine weitere Anmaßung, eine Qual zuviel, die er hier hat absitzen müssen, mit mir in diesem Haus. Er hat noch nichts gesagt, über den Tag davor nicht und über nichts sonst, und mir ist schon klar, dass er weiterschweigen will. Vielleicht, denke ich kurz, grübelt er ja auch schon darüber nach, was gegen mich zu unternehmen wäre.
Abb. 20
Herr Letterau ist am nächsten Tag im Geschäft und in der Werkstatt mit sich selbst und den Aufträgen beschäftigt. Hin und wieder helfe ich ihm dabei, ein schweres Gerät zu heben und zu tragen, ansonsten versuche ich mich selbst zu beschäftigen, indem ich die Batterien in der Auslage hinter der Kasse sortiere, die Bildröhren im Verkaufsraum abstaube und die vereiste Schneeschicht vor der Ladentür mit Salz und Split bestreue. Ich verbringe mehr Zeit als gewöhnlich vor dem kleinen Fernseher im ersten Stock und muss den ganzen Tag gegen eine übermenschliche Müdigkeit ankämpfen. Mir fehlt das Gefühl für den Sinn meiner Arbeit im Laden, meiner Handlungen generell.
Ich wechsle eine flackernde Neonröhre im oberen Flur gegen eine scheinbar auch schon längst verbrauchte, die dann ein schwaches, kränklich grünes Licht absondert. Das Meer vor den Fenstern ist ohne jede Dünung. Die Schollen, die dort noch treiben, wo es nicht vollständig festgefroren ist, verursachen ein leises Klackern und Kratzen, wenn sie gegeneinander stoßen. Man hört es nur vom Strand aus. Genau genommen hört man es nur, wenn man vom Strand aus schon ein Stück auf die vereiste See hinausgegangen ist und dann auch nur sehr schwach und undeutlich.
Ich bin diesem Geräusch ein einziges Mal nachgegangen, habe mich dann aber zu sehr gegruselt vor der Vorstellung, dass es sich dabei um eine Art leises Locken handelt, ins weiße, kalte Nichts und bin wieder umgekehrt.
An meinem Arbeitsplatz vor dem Fernsehbildschirm sehe ich zwei ältere Frauen in dunkelblauen Jacketts hinter einem hüfthohen, mit blutrotem Velours überzogenen Verkaufstisch stehen und mit sehr langen, miesmuschelfarbigen Fingernägeln auf ein Diamantcollier zeigen, vor dem eine Telefonnummer, eine langsam heruntertickende Stückzahl und ein durchgestrichener Normalpreis eingeblendet sind.
Ich sehe einen muskulösen Mann in kurzen Hosen mit glattrasierten Beinen, der in einer Steilwand hängt und seine weiße, staubige Hand aus einem Magnesiumbeutel an seinem Klettergürtel herauszieht. Er wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und trägt von da ab, beim weiteren Aufstieg, einen weißen Strich über den Augen.
Ich denke an Richard, als ich einen blonden Moderator sehe, der sich einen Bleistift hinters Ohr geklemmt hat und mit einem Meterstab in ein modriges Badezimmer hineinzeigt. In schnellen Schnitten sieht man, wie das Porzellan und die Fliesen herausgebrochen werden und wie dann im Zeitraffer ein völlig neues Badezimmer gefliest, installiert und schließlich durch feierliches Aufdrehen der Wasserhähne in Betrieb genommen wird. Im Hintergrund ist eine klimpernde Videospielmusik zu hören. Der Moderator mit dem Bleistift hinter dem Ohr überrascht im nächsten Bild einen heimkommenden jungen Menschen hinter der Wohnungstür, wie ein schlechter Spuk, und zeigt ihm das neue Bad.
Ich sehe eine junge Frau, die ein weites Herrenhemd trägt und sich vor dem Panoramafenster einer Hochhauswohnung die Fußnägel lackiert, einen alten Biologen mit Sauerstofftank auf dem Rücken, der in einem Haifischkäfig in blaues Meerwasser hinabgelassen wird und ein vom Störflimmern zerfranstes Tortendiagramm in bunten Farben, das den prozentualen Anteil verschiedener Tendenzen in der Bevölkerung darstellt.
Als ich am Abend die Treppe herunterkomme, durch den Verkaufsraum gehe und über den Tresen hinweg in die Werkstatt hineinschaue, sehe ich von Herrn Letterau nur den gebeugten Rücken im Ausschnitt der Tür. Der Rest ist wahrscheinlich über ein geöffnetes Gerät gebeugt. Ich entscheide mich gegen eine Verabschiedung, nehme meinen Mantel, den Schal und die Mütze vom Haken in der kleinen Kammer am Kellerabgang und verlasse den Laden.
Über mir in den Wolken zeichnet sich der fahle Widerschein der Stadt ab. Die
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