Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Weg, der durch sie markiert ist. Ich konzentriere meinen Blick auf den verschneiten Waldboden, bekomme Kopfschmerzen davon und sehe unzählige Spuren, ohne wirklich an sie glauben zu können. Manchmal beuge ich mich hinunter und fahre mit der Hand über den Abdruck eines Winterstiefels, und dann ist da höchstens eine kalte Wurzel oder ein abgestorbenes Kraut.
Ein Mann war zu sehen, der einen dichten Bart im Gesicht trug und in kurzen Hosen und Pelzmantel vor einem Lagerfeuer saß. Er wurde beim routinierten Ausnehmen und Häuten einer dicken Beutelratte gefilmt, die er anschließend auf einen geschnitzten Holzspieß steckte und über dem Feuer befestigte. Das Herz des Tieres wurde separat gebraten und dann mit einem großen Jagdmesser in zwei Hälften geschnitten.
Der bärtige Mann sagte in die Kamera, dass die Ureinwohner der Gegend immer das Herz der Beute teilten, es handle sich dabei um einen symbolischen Akt.
Außer dem Bärtigen war aber nur noch der Kameramann am Lagerfeuer anwesend, also hielt er die aufgespießte Herzhälfte in Richtung der Linse, bis seitlich in das Bild eine zögerliche Hand gestreckt wurde, die mit spitzen Fingern das halbe Herz von der Messerspitze abzog und damit wieder aus dem Bildrand verschwand.
Meine Hose hatte sich vom Gehen durch den tiefen Schnee mit Feuchtigkeit vollgesogen, die nun an der kalten Luft gefror. Immer wieder fuhr ein eisiger Wind durch die toten Bäume, ich sah einen silbernen Zylinder mit rostigem Kopf aus dem Boden ragen und erkannte darin sofort eine alte Mörsergranate.
Ich erinnerte mich, dass wir in der Schule eine Art Grundausbildung in Sprengwaffentechnik erhalten hatten, die uns befähigen sollte, gefahrvolle Gegenstände im Umkreis des Ortes zu identifizieren und unverzüglich zu melden. Dann fiel mir auf, dass ich lange schon an keinem roten Pfosten mehr vorbeigekommen war und ich fing schließlich an, laut nach Richard zu rufen.
Wie alle Geräusche im Ort konnte ich meine Stimme wieder ganz unmittelbar hören, als würde ich mir selbst ins eigene Ohr schreien. In der Landschaft aber ging sie augenblicklich in der Dumpfheit des Schnees verloren.
Ich rief ein paar Mal laut seinen Namen, bevor es mir vor dem ruhigen, munitionsverseuchten Wald oder vor mir selbst oder vor einem anderen Menschen, den ich mir aber nur vorstellte, denn es war wirklich niemand mehr hier, unangenehm wurde, vielleicht sogar peinlich, aber vielleicht bringt es ja doch was, meldete eine schwache Stimme irgendwo in meinem Kopf, die ganz leicht zu ignorieren war.
In einer durchsichtigen Plastikröhre steht eine Person in weißer Hose und weitem Pullover auf einem Hochleistungsventilator, der gewöhnlich für Windkanalversuche verwendet wird. In der Röhre befinden sich außer der Person noch sehr viele Geldscheine, die vom Ventilator herumgewirbelt werden. Die Person hat eine Minute Zeit, so viele Geldscheine wie möglich zu greifen und so in ihrer Kleidung zu verstauen, dass sie nicht mehr vom starken Aufwind erfasst werden können. Sie darf nur behalten, was sie auf diese Weise an sich gebracht hat.
Auf lautlosen Schritten und mit sanft schwingenden Schultern tritt eine hochschwangere Frau an ein großes Fenster. Die Schatten der Regentropfen auf diesem Fenster sind auf ihrem Gesicht und ihrem runden Bauch zu sehen. In ihrer Hand führt sie einen Löffel langsam von einem Joghurtbecher zum Mund und zwischen die geöffneten Lippen. Sie schließt genussvoll die Augen und zieht dann den leeren Löffel unendlich langsam aus ihrem Mund hervor.
Als sich die Augenlider wieder öffnen, langsam wie elektrische Garagentore, zeigen die Pupillen bereits auf den Becher in ihrer Hand.
Der Wald öffnet sich auf ein weites Feld. Auf der gegenüberliegenden Seite sind dunkle, eckig am Feldrand verlaufende Schemen zu erkennen. Ich gehe mitten durch den tiefen Schnee auf die niedrigen Häuser am Ortsrand zu, auf dem kürzesten Weg. Ich will nicht wieder am Wald entlang, den ganzen weiten Bogen bis zur Ausfallstraße, obwohl es sehr anstrengend ist und der Wind auf dem offenen Feld unerträglich. In den Falten meiner Kleidung sammelt sich der Schnee aus der Luft, die Haut in meinem Gesicht ist vertrocknet von der Kälte und straff über den Schädel gespannt.
Als ich den Rand der Siedlung erreiche, treffe ich auf einen langen Gartenzaun, der ohne Lücke oder Unterbrechung übergeht in einen nächsten. Die Häuser stehen eng. Die Gärten sind voneinander und vom Rest der Landschaft
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