Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
sitzt, ohne selbst zu treten.
Der Präsident einer afrikanischen Nation, der hinten aus einer schwarzen Limousine heraussteigt und an vielen Fotografen, Fernsehkameras und Mikrofonen an langen Teleskopstangen vorbei auf den Eingang eines Regierungsgebäudes zugeht. Man kann gleich erkennen, dass er auf diesem Gang nichts sagen wird. Er öffnet und schließt eine hochgehobene Hand. Hallo soll das wohl heißen. Oder: Guten Tag. Es sieht aber aus wie eine kleine Explosion.
Bis in den frühen Morgen verbringe ich meine Zeit in einer nervösen Unruhe. Und als Richard dann noch immer nicht nach Hause gekommen ist, beschließe ich, nach ihm zu suchen. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, vielleicht ist über dem östlichen Stadtrand schon wieder der schmale Streifen schwach zu erkennen, aber ich interessiere mich nicht dafür. Ich ziehe meinen Mantel und die Stiefel an und merke beim Schnüren der Schuhe, wie müde ich unter der ganzen nervösen Spannung inzwischen geworden bin. Jede Berührung, das Innenfutter des Mantels auf meinen Schultern oder die Schnürsenkel in meinen Fingern, fühlt sich seltsam an. Es kommt mir vor, als wären alle Nerven gereizt, hochempfindlich und doch von einer Schicht vollkommen tauber Haut überzogen. Alles fühlt sich zur selben Zeit unheimlich stumpf und extrem präsent an.
Ich fühle mich sehr unwohl, kann aber die große Angst auch nicht mehr länger leugnen, die ich um Richard habe und davor, ihn irgendwo und viel zu spät im Schnee zu finden. Mit seiner marineblauen Mütze, denke ich noch und finde gerade diese Vorstellung vor mir selbst ganz lächerlich.
Unsicher gehe ich durch die Straße meiner Eltern, etwas halbherzig durch den Ort und bemerke nach einer Weile, dass ich vielmehr auf die Einfahrten und die Fenster in den Häusern achte, auf die Bewohner und ihre mögliche Reaktion auf meine hier suchend in den Straßen herumlaufende Person als auf ein Zeichen oder eine Spur. Vielleicht hoffe ich auch, jemand könnte mich ansprechen und mir seine Hilfe anbieten. Aber es ist wirklich noch sehr früh und kaum ein Fußgänger unterwegs.
Ich schaue für einige Sekunden mit zusammengekniffenen Augen gegen den sehr kalten Wind über den Strand hinweg und kann überhaupt nichts erkennen.
Ich schaue hinter und in dem Müllcontainer auf dem Supermarktparkplatz, auf dem Friedhof an der Hauptstraße, am Wegkreuz bei dem gelben Fernverkehrsschild. Ich schaue durch einen engmaschigen Drahtzaun über zwei längst verwaiste Tennisplätze hinweg, wo der Schnee eine völlig unberührte weiße Fläche gebildet hat. Ich gehe an den Ortsrand und über die Ortsausgangsbeschilderung hinaus in Richtung der alten Kasernenanlage und der Gokartbahn.
Mir wird unerträglich kalt als ich die Gebäude erreiche, nichts hat sich verändert, das Betonmischgerät ist nicht umgestürzt, es steht aufrecht und ist doch fast vollständig begraben. Ich gehe durch den tiefen Schnee auf der Fahrbahn, der mir bis an die Knie reicht und schaue in ein paar der aufgeschichteten Reifenstapel hinein. In dem kleinen Wächterhäuschen bei der Kasernenschranke zertrete ich große Scherbenstücke auf dem Fußboden zu ganz kleinen Splittern. Dort, wo sich die Fensterfolie an den halbrenovierten Häusern schon etwas abgelöst hat, franst und flattert sie in den scharfen Windstößen, die vom Meer über den Ort und die Bäume hergeweht kommen. Ich versuche eine Tür in eines der großen Gebäude aufzubrechen, aber es gelingt mir nicht.
Ich habe ein klassisches Konzert aufgenommen, obwohl der Ton vollkommen unbrauchbar und verrauscht war. Nicht mal das Bild war besonders gut. Aber die konzentrierten Gesichter der Menschen an ihren Instrumenten haben mir sehr gefallen. Außerdem hat sich manchmal das ganze Bild auf eine magische Weise synchron mit den Streichbewegungen der Geiger oder Cellisten so verzogen, dass es aussah, als schöben sie mit ihren spielenden Armen das komplette Orchester durch den Raum. Oder das Bild über den Schirm.
An einer Hausecke sind im Schnee rechteckige Schlitze zu sehen. Ich gehe näher ran und dann erkenne ich, dass ein paar Dachziegel abgegangen und hier eingetaucht sind. Vielleicht sogar unversehrt.
Als ich in den Wald, in das Sperrgebiet hineingehe, ist schon etwas Helligkeit aufgekommen, es ist ein tiefnebliger Morgen, ich beginne, einen Unterschied zu erkennen zwischen den schwarzen Stämmen der Bäume und der kalten Feuchtigkeit in der Luft. Ich sehe die rotbestrichenen Pfosten, aber keinen
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