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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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die Glasmädchen – und daran, daß ich eine Glashütte besucht und gleich darauf im Brötchenbuch über eine gelesen hatte. Ich dachte außerdem an den Zwerg, der mir eine Lupe überreicht hatte, unmittelbar bevor ich ein Buch in Mikroschrift bekommen hatte. Ich dachte auch an das, was passiert war, nachdem meine Großmutter in Froland eine Fahrradpanne gehabt hatte – und an alles, was seither geschehen war.
    »Ich glaube nicht, daß es ein Zufall war, daß ich geboren worden bin«, sagte ich.
    »Zigarettenpause«, sagte Vater. Ich hatte wohl etwas gesagt, das einen seiner Minivorträge aus der Archivschublade springen ließ.
    Er hielt auf einer Anhöhe, und wir hatten einen atemberaubend schönen Blick aufs Meer.
    »Setzen!« befahl er, als wir aus dem Auto gestiegen waren, und zeigte auf einen großen Stein.
    »1349«, begann er.
    »Der Schwarze Tod«, antwortete ich. Ich wußte einiges über Geschichte, aber ich begriff nicht, was die Pest mit dem Thema Zufall zu tun haben könnte.
    »Okay«, sagte er, und dann legte er los. »Du weißt sicher, daß halb Norwegen an der Pest zugrunde gegangen ist. Aber es gibt da etwas, das ich dir noch nie erzählt habe.«
    Wenn er so anfing, wußte ich, daß mir ein langer Vortrag bevorstand.
    »Bist du dir darüber im klaren, daß du damals viele tausend Ahnen hattest?« fragte er.
    Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Wie sollte das denn möglich sein?
    »Wir haben zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern, sechzehn Ururgroßeltern – und so weiter. Wenn du bis 1349 zurückrechnest, sind das ganz schön viele.«
    Ich nickte.
    »Dann kam die Pest. Der Tod wanderte von Dorf zu Dorf, und die Kinder traf es am schlimmsten. In einigen Familien starben alle, in anderen überlebten vielleicht ein oder zwei. Du hattest viele hundert Ahnen, die damals Kinder waren, Hans-Thomas, und von denen ist keins gestorben.«
    »Woher kannst du das so genau wissen?« fragte ich verblüfft.
    Er zog an seiner Zigarette, dann sagte er: »Weil du hier sitzt und auf die Adria blickst.«
    Wieder so eine überraschende Pointe, daß ich nicht richtig wußte, wie ich reagieren sollte. Aber mir war klar, daß er recht hatte, denn wenn auch nur einer oder eine von meinen Ahnen als Kind gestorben wäre, hätten sie ja nicht meine Ahnen werden können.
    »Die Chance, daß absolut niemand von deinen Ahnen in seiner Kindheit stirbt, steht eins zu vielen Milliarden«, fuhr er fort, und jetzt sprudelten die Worte aus ihm heraus wie ein Wasserfall: »Denn es geht hier nicht nur um die Pest, verstehst du. Alle, alle deine Ahnen sind herangewachsen und haben Kinder bekommen, noch zu Zeiten schlimmster Naturkatastrophen und verheerender Kindersterblichkeit. Viele von ihnen sind natürlich krank geworden, aber sie haben immer überlebt – auf diese Weise warst du viele hundert Milliarden Male nur einen Millimeter vom Tode entfernt, Hans-Thomas. Dein Leben auf diesem Planeten war bedroht von Insekten und wilden Tieren, von Meteoren und Blitzeinschlägen, von Krankheit und Krieg, Überschwemmungen und Feuersbrünsten, Vergiftungen und Mordversuchen. Allein im Dreißigjährigen Krieg bist du viele hundert Male verwundet worden. Denn du mußt auf beiden Seiten Ahnen gehabt haben – ja, im Grunde hast du gegen dich und deine Möglichkeiten, drei Jahrhunderte später geboren zu werden, Krieg geführt. Und genauso im Zweiten Weltkrieg: Hätten gute Norweger während der Besatzung deinen Großvater erschossen – dann wären weder du noch ich geboren worden. Es geht darum, daß das im Laufe der Geschichte viele Milliarden Male geschehen ist. Jedesmal, wenn Pfeile durch die Luft schwirrten, wurden deine Chancen, geboren zu werden, auf ein Minimum reduziert. Aber jetzt sitzt du hier und redest mit mir, Hans-Thomas. Verstehst du?«
    »Ich glaube schon«, sagte ich. Jedenfalls glaubte ich zu begreifen, wie wichtig Großmutters Fahrradpanne in Froland gewesen war.
    »Ich spreche von einer einzigen langen Kette von Zufällen«, fuhr Vater fort. »Und diese Kette läßt sich bis zur ersten lebenden Zelle zurückverfolgen, die sich teilte und damit den Anstoß für alles gab, was heute auf diesem Planeten wächst und gedeiht. Die Chance, daß meine Kette nicht irgendwann im Laufe von drei bis vier Milliarden Jahren unterbrochen wurde, ist so klein, daß es fast unvorstellbar ist. Aber ich bin durchgekommen. Ja, verflixt, das bin ich. Und ich weiß, was ich für ein verdammtes phantastisches Glück habe, daß ich diesen

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