Das Kartengeheimnis
sie noch einmal. „Ich glaube, ich habe schon einmal davon gehört. Oder vielleicht bilde ich es mir auch nur ein... Es ist so schrecklich lange her...“
Sie bückte sich wieder und pflückte noch eine blaue Blume. Und plötzlich schien sie einen epileptischen Anfall zu erleiden. Mit zitternden Lippen sagte sie: „DIE INNERE SCHACHTEL PACKT DIE ÄUSSERE SCHACHTEL AUS, UND DIE ÄUSSERE SCHACHTEL PACKT DIE INNERE SCHACHTEL AUS.“
Ein sinnloses Gerede, und mir schien, als sei sie dabei gar nicht sie selber. Es war, als rutschten ihr diese Worte einfach so heraus, ohne daß sie begriff, was sie eigentlich sagte. Danach kam sie wieder zu sich und zeigte auf meine Matrosenkleidung.
„Aber du bist ja ganz blank!“ sagte sie erschrocken.
„Meinst du, weil ich kein Zeichen auf dem Rücken habe?“
Sie nickte. Dann warf sie den Kopf in den Nacken.
„Du darfst mich doch wohl nicht schlagen?“
„Ich würde niemals eine Dame schlagen“, sagte ich.
„Jetzt machst du Witze. Ich bin doch keine Dame.“
Sie hatte tiefe Lachgrübchen in den Wangen. Ich fand sie überirdisch schön wie eine Elfe. Wenn sie lächelte, strahlten ihre grünen Augen wie Smaragde; ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden.
Plötzlich lief ein besorgtes Zucken über ihr Gesicht.
„Du bist doch hoffentlich nicht Trumpf?“ rief sie.
„Nein, nein – ich bin nur Matrose.“
Im nächsten Augenblick schlüpfte sie hinter einen Baum und war verschwunden.
Ich versuchte, ihr zu folgen, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt.
KREUZ VIER
... eine riesige Lotterie, bei der nur die Gewinnerlose sichtbar sind...
Ich legte das Brötchenbuch beiseite und schaute aufs Meer. Was ich gerade gelesen hatte, brachte mich auf so viele Fragen, daß ich gar nicht wußte, an welchem Ende ich mit dem Denken anfangen sollte. Die Zwerge auf der magischen Insel wurden immer rätselhafter, je mehr ich über sie las. Bis jetzt war der Bäcker-Hans also Kreuzzwergen und Karozwergen begegnet. Dann hatte er das Herz As getroffen, aber das war gleich wieder verschwunden.
Wer waren diese Zwerge? Wie waren sie entstanden – und woher kamen sie?
Ich war sicher, daß mir das Brötchenbuch am Ende alle Fragen beantworten würde, die mir jetzt Kopfzerbrechen bereiteten. Aber da war noch etwas anderes: Die Karozwerginnen hatten in einer Glashütte Glas geblasen. Das fiel mir besonders auf, weil ich selber gerade eine Glashütte besucht hatte. Ich glaubte immer fester, daß irgendein Zusammenhang zwischen meiner Reise durch Europa und dem Inhalt des Brötchenbuches bestehen mußte. Aber was ich im Brötchenbuch las, hatte der Bäcker-Hans vor vielen, vielen Jahren Albert erzählt! Konnte es trotzdem einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen meinem eigenen Leben und dem großen Geheimnis geben, das der Bäcker-Hans, Albert und Ludwig geteilt hatten?
Wer war der alte Bäcker, dem ich in Dorf begegnet war? Wer war der Zwerg, der mir die Lupe geschenkt hatte – und der noch dazu dauernd in unserer Nähe auftauchte? Ich war überzeugt davon, daß eine Verbindung zwischen dem Bäcker und dem Zwerg bestehen mußte – obwohl sie selber womöglich nichts von einer solchen Verbindung wußten.
Vater konnte ich nichts von dem Brötchenbuch erzählen – jedenfalls nicht, solange ich es noch nicht ausgelesen hatte. Trotzdem war es gut, einen Philosophen im Auto zu haben.
Wir hatten gerade Ravenna passiert, und ich fragte ihn: »Glaubst du an Zufälle, Vater?«
Er warf mir im Rückspiegel einen Blick zu. »Ob ich an Zufälle glaube ?«
»Jepp.«
»Aber ein Zufall ist ja gerade etwas, was rein zufällig passiert! Als ich damals im Lotto die zehntausend Kronen gewonnen habe, wurde mein Los unter Tausenden von anderen Losen gezogen. Ich war natürlich zufrieden mit dem Ergebnis, aber daß ich gewonnen habe, war pures, astreines Schwein.«
»Bist du dir da ganz sicher? Hast du vergessen, daß wir am selben Vormittag ein Glückskleeblatt gefunden hatten? Und wenn du das Geld nicht gewonnen hättest, hätten wir uns die Fahrt nach Athen vielleicht gar nicht leisten können.«
Er grunzte nur, und ich redete weiter: »War es auch so ein Zufall, daß deine Tante nach Kreta gefahren ist und dort in einer Modezeitschrift Mama entdeckt hat? Oder sollte das so sein?«
»Du willst fragen, ob ich an das Schicksal glaube«, sagte er nun. Ich glaube, es gefiel ihm, daß sich sein Sohn mit solchen philosophischen Fragen beschäftigte. »Die Antwort ist nein.«
Ich dachte an
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