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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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Fallschirmen, die produziert werden, kommt es mir sehr unwahrscheinlich vor, dass ausgerechnet Verners Seide an seinem Unfall schuld war.
    Ich habe keine Ahnung, warum Du Robbie erlaubt hast, diese Ballen mitzunehmen – und dennoch deutest Du an, es sei meine Schuld. Falls ich eine Rolle dabei gespielt haben sollte, tut es mir entsetzlich leid.
    Ich bin für ein paar Tage zu meiner Mutter gefahren.
    Gwen
    Eine Woche später kam sie zurück. Obwohl ich mir größte Mühe gab, es wiedergutzumachen, wurde es nie mehr wie vorher. Natürlich führten wir gemeinsam die Firma weiter, gingen jeden Tag zur Arbeit, kümmerten uns um Kunden und Mitarbeiter, aber ich fühlte mich, als hätte mir jemand die Seele gestohlen. Ein- oder zweimal versuchte sie, mit mir zu reden, mich zu trösten, doch jedes Mal wies ich sie zurück. Ebenso Mutter, der die Missstimmung nicht verborgen blieb. Wie sollte ich ihr etwas erklären, das ich selbst nicht verstand.
    Schuldgefühle nagten an mir, verzehrten mich wie ein wucherndes Krebsgeschwür: schuldig wegen meiner unverzeihlichen Lüge; schuldig an Stefans Tod; schuldig, Gwen verletzt zu haben. In dieser Situation brachte ich es nicht fertig, Stefans Abschiedsbrief zu lesen und mir den Inhalt der khakifarbenen Baumwolltasche anzuschauen. Beides lag unberührt in meinem Büro. Eines Tages ertrug ich es nicht einmal mehr, die Sachen überhaupt vor Augen zu haben. Ich stopfte sie ungeöffnet in den kleinen braunen Koffer zu seinen restlichen Sachen. Am Ende zog ich sogar meinen Ehering und den Ring seiner Mutter von meinen Fingern, steckte sie in das rote Filzsäckchen, holte seine Briefe und unser Hochzeitsalbum und packte alles ebenfalls in den Koffer, schloss ihn ab und verbarg ihn ganz weit hinten im Schrank des Gästezimmers. Nichts mehr war übrig, was mich an meine Mitschuld am Tod des Mannes erinnern konnte, den ich so sehr geliebt hatte.
    Während die Wochen verstrichen und der Herbst einem unbarmherzig kalten Winter wich, gefror meine Seele wie das Wasser auf den überfluteten Auwiesen. Es ging mir jämmerlich, und ich haderte mit mir und der Welt. Trotzdem machte ich weiter, lächelte und ertrug es irgendwie.
    Der Krieg zog sich trotz alliierter Erfolge in die Länge, und das Sterben nahm kein Ende. Wie hatte Mutter einmal gesagt: Es sei Aufgabe der Frauen, daheim das Feuer und den Herd zu hüten, bis die Männer heimkehrten. Wir taten unser Bestes, nur gab es außer John niemanden mehr, auf den wir warten konnten.
    Das Verhältnis zwischen Gwen und mir ließ sich nie mehr wirklich reparieren. Zu sehr hatte ich sie verletzt, und immer öfter schlug ihre Verbitterung in offenen Kummer um. Die Situation war verfahren. Beide zogen wir uns immer mehr zurück und lebten einfach nebeneinander her – höflich zwar, doch von dem einstigen Vertrauen war so gut wie nichts geblieben.
    Endlich wurde es Frühling. Ende April erfuhren wir von Hitlers Tod. Kurz darauf von der bevorstehenden Kapitulation der deutschen Streitkräfte. Am 8. Mai war es dann so weit. Um fünfzehn Uhr würde sich Churchill übers Radio an die Nation wenden. Mehr als einhundert Arbeiterinnen und Arbeiter, von denen viele Rot, Weiß und Blau, die Farben des Union Jack, trugen, versammelten sich in der Werkskantine mit ihren Familien, um zuzuhören. Die Stimmung war merkwürdig gedämpft, und es lag eine erwartungsvolle Stille über dem Raum. Nach sechs Jahren Krieg konnten die meisten es offenbar kaum glauben, dass es wirklich vorbei war. Doch sobald die Worte » bedingungslose Kapitulation « über den Sender kamen, erhob sich ein unbegreiflicher Jubel. Die Anwesenden lachten und weinten gleichzeitig, küssten und umarmten einander, um dann aufmerksam der Rede zu lauschen.
    Ergriffen hörten sie zu, wie Churchill den Männern und Frauen Anerkennung und Respekt zollte, die für den Sieg ihr Leben lassen mussten, und allen dankte, die in diesem Krieg heldenhaft zu Land, See und Luft gekämpft hatten. Er schloss mit den Worten: » Wir müssen jetzt unsere ganze Kraft und alle Mittel einsetzen, um unsere Aufgabe zu Ende zu bringen, sowohl zu Hause als auch im Ausland. Vorwärts, Britannien. «
    » Ein dreifaches Hoch auf Mr. Churchill « , rief jemand. » Und die königliche Familie « , fügte ein anderer hinzu, und als alle Hurra riefen und jubelten, stieß Gwen mich in die Seite und flüsterte: » Du bist dran, Lily. « Ach du liebe Güte, das hatte ich total vergessen. Bei solchen Anlässen erwarteten die Leute eine

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