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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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Geräusche eines Flugzeugs, das tief über das Haus flog.
    Ein kleiner Doppeldecker kam in Sicht und drehte ein paar Runden, schraubte sich dabei jedes Mal ein wenig tiefer. » Meine Güte! Lily, schau! Er landet « , sagte John.
    Und tatsächlich dauerte es nicht mehr lange, und die Maschine setzte holpernd auf dem gepflegten Rasen zwischen den Bäumen auf und vertrieb die friedlich grasende, zahme Rehherde.
    » Das ist bloß Robbie, der wieder mal angibt « , sagte Miranda, die Schwester unseres Gastgebers, der wir am Abend zuvor vorgestellt worden waren. Gebannt beobachteten wir, wie das Flugzeug zum Stehen kam, Robbie in lederner Fliegermontur aus dem Cockpit kletterte und zum Haus herüberschlenderte. Es dauerte nicht lange, und er betrat den Frühstücksraum, schaufelte sich eine kräftige Portion Kedgeree auf den Teller und gesellte sich zu uns.
    » Fliegen macht hungrig, was? « , fragte John so beiläufig, als käme bei uns jeden Tag ein Gast mit dem Flugzeug zum Frühstück vorbei. Dabei war mein Bruder in Wirklichkeit schwer beeindruckt.
    » Und wie. « Robbie schüttete Wolken von Pfeffer über seinen Teller. » Ich bin seit sechs Uhr auf. « Wir unterhielten uns eine Weile über den vergangenen Abend, wie viel Spaß wir gehabt hatten, bevor er sich wieder an John wandte. » Ein reizender Tag für einen Rundflug, alter Junge. Lust, mich zu begleiten? Die Maschine bietet Platz für einen Kopiloten und einen Passagier. Vielleicht möchte Lily ebenfalls mitkommen? «
    » Das wäre großartig « , antwortete John strahlend.
    Ich geriet in Panik. » Nein danke. Ich habe nichts Warmes anzuziehen. Außerdem, meinst du nicht, wir sollten uns auf den Heimweg machen, John? «
    Er schaute mich bittend an. » Ich würde wirklich schrecklich gerne mitfliegen « , sagte er. » Komm schon, Schwesterchen. Du beschwerst dich doch ständig, wie langweilig dein Leben ist. Hab ein bisschen Spaß. Wann wirst du je wieder eine solche Chance bekommen? «
    » Ich leihe Ihnen Jacke, Schal, Mütze und Handschuhe « , warf Miranda ein.
    » Sehen Sie? « , sagte Robbie triumphierend. » Jetzt gibt es keine Ausreden mehr, Miss Lily. « Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren. Ich schob entschlossen meine Ängste beiseite, trank meinen Kaffee aus und ging mit Miranda, um mich ausstaffieren zu lassen.
    Mein Schrecken beim Start wich schnell wachsender Begeisterung. Welch großartiges Erlebnis, eine vertraute Landschaft von hoch oben zu sehen. Wir flogen erst nach Süden an der Küste entlang, bogen dann landeinwärts und folgten dem Fluss nach Westbury. Aus der Luft sah der Ort klein und unbedeutend aus, nicht größer als eine Spielzeugstadt. Wir brummten dicht über die Fabrik und das Kastanienhaus hinweg, allerdings nicht so tief, dass wir Einzelheiten erkennen konnten. Ich stellte mir vor, wie Vater gerade am Kaminfeuer im Salon die Zeitung las und leise über die verantwortungslosen Piloten schimpfte, die seinen Feiertagsfrieden störten.
    Nur ein paar Tage später erhielt John einen Anruf von Robbie, der seinen Besuch ankündigte.
    » Er besteht darauf, dass Lily dabei ist « , betonte er und zwinkerte Vater verschwörerisch zu. » Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum. «
    » Weil er weiß, dass ich etwas von Seide verstehe « , gab ich empört zurück, obwohl ich genau wusste, worauf John anspielte. Und tief in meinem Innern hoffte ich, dass er mit seiner Vermutung recht hatte. Seit Silvester dachte ich an nichts anderes als an Robbie Cameron, an seine Selbstsicherheit und seine perfekten Umgangsformen, an die Souveränität, mit der er das kleine Flugzeug steuerte, an seine starken Arme, die mich nach unserer Landung von dem Flügel herunterhoben, und daran, dass meine Knie sich wie Pudding anfühlten. In Gedanken war ich die Ereignisse jenes Abends hundertmal durchgegangen und hatte gehofft, dass es wirklich der Anfang von etwas Neuem war. Das machte die Aussicht auf ein Wiedersehen aufregend und zerrte zugleich ein wenig an meinen Nerven. Würde er mich immer noch mögen, oder war das bloß eine Sache von einem Abend gewesen, fragte ich mich.
    Diesmal trug Robbie keinen Kilt, sondern einen teuer aussehenden Nadelstreifenanzug, dazu die Krawatte einer elitären Privatschule, und sah ausgesprochen geschäftsmäßig aus. Er reichte John und mir die Hand und betrachtete dann die gerahmten Zeugnisse und Fotografien an den Wänden des Besuchsraums in der Fabrik. Ich bemerkte, wie sein Blick an einem Foto hängen blieb, auf dem

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