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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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Fensterkreuze und Sprossen kam doppelseitiges Klebeband, auf dem der schwarze Satin abends vor Anbruch der Dunkelheit befestigt wurde. Unser ganzer Vorrat ging dabei drauf, denn allein in der Fabrik waren es dreihundertundzwanzig einzelne Scheiben, da unsere alten Fenster mehrfach unterteilt waren. Überdies wurden lange Reihen von Haken angebracht, an denen die Gasmasken, für jeden eine, hingen. Ein gespenstischer Anblick.
    Dennoch nahmen wir in der relativen Abgeschiedenheit von East Anglia den Krieg in diesen ersten Wochen nicht wirklich ernst. Er war irgendwie nicht real. Wir gewöhnten uns an das Heulen der Sirenen – aber genauso gut daran, dass es sich immer nur um Probealarme handelte. Oder wir vermuteten einen Fehlalarm und rissen unsere Witze: Hat wohl wieder irgendein Übereifriger auf den falschen Knopf gedrückt, sagten wir und gingen kopfschüttelnd weiter unserer Arbeit nach.
    Wir waren nach der ersten Aufregung schnell wieder zur Normalität zurückgekehrt.
    Bloß für mich war nichts mehr wie früher. Was an Stefan lag, der mittlerweile den Mittelpunkt meiner Welt bildete. Da brauchte ich Vera gar nicht zu befragen; dieses Mal wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass ich verliebt war, und er auch. All diese Liebesromanklischees, über die ich die Nase gerümpft hatte, erlebte ich jetzt am eigenen Leib. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich dachte ständig an ihn und ertappte mich dabei, wie ich leise seinen Namen flüsterte, nur weil es sich so gut anfühlte. Wenn ich ihn am Morgen zum ersten Mal sah, klopfte mein Herz schneller, und ich spürte eine ziehende Sehnsucht, die meinen ganzen Körper erfüllte. Plötzliche Hitze durchlief mich sogar an Stellen, über die ich früher lieber geschwiegen hatte. Ich verlor den Appetit, was Mutter dahingehend deutete, dass ich Robbie vermisste, und ich ließ sie in dem Glauben. Schließlich sollte niemand von Stefan und mir wissen.
    Jeder Tag wurde zur sinnlichen Qual, denn es war nicht einfach, so dicht beieinander zu sein und sich nicht verraten zu dürfen. Selbst geflüsterte Worte waren gefährlich, weil sich ja alle Mitarbeiter aufs Lippenlesen verstanden.
    Aber wir fanden andere Wege. Wenn Stefan zwischen unseren Webmaschinen an mir vorbeiging, blieb er stehen, nur ganz kurz, sodass wir die Körperwärme des anderen spüren und den Geruch der Haut des anderen einatmen konnten. Wenn wir uns unbeobachtet glaubten, formten wir unhörbar verliebte Botschaften. Manchmal Bedeutsames, manchmal Nichtiges, doch für uns immer wichtig.
    Er steckte mir kleine Notizen unter das Schiffchen oder an andere Stellen, die nur ich finden würde, wenn ich am Morgen meine Webmaschinen kontrollierte. Hin und wieder fand ich eine kleine Zeichnung, denn Stefan war ein talentierter Cartoonist. Mit ein paar einfachen Strichen konnte er etwa einen manischen Hitler porträtieren, dem mehrere Köpfe wuchsen, oder auch Kurt und Walter bei einer Kissenschlacht. Gelegentlich brachte er sentimentale Sujets zu Papier: Strichfiguren von Paaren, die sich küssten oder Händchen hielten, und diese Blätter ließen mich immer aufs Neue dahinschmelzen.
    Die Arbeit füllte den Großteil unserer Tage aus, und eine Zeit oder einen Ort zu finden, um uns heimlich zu treffen, war gar nicht so einfach. Ich fragte ihn nie, welche Geschichten er Kurt und Walter auftischte – ich jedenfalls brachte es zur Meisterschaft im Erfinden glaubhafter Ausreden. So gewöhnte ich mir an, nach dem Abendessen einen Spaziergang zu machen, » weil ich den Kopf frei bekommen musste « . Eine Weile boten sich Gänge zur Apotheke an, » weil ich dringend etwas brauchte « – da wagte zumindest mein Vater nicht mehr nachzufragen. Nur ließen sich » Frauensachen « nicht jede Woche als Ausrede hernehmen, und zwischendurch mussten Kopfschmerzen, Magenbeschwerden und anderes mehr herhalten. Komisch, dass niemand mein plötzliches gesundheitliches Schwächeln bemerkte.
    Immer wenn das Wetter trocken zu bleiben versprach, trafen wir uns auf der Insel, bauten die alte Hütte mit Ästen und immergrünen Farnwedeln wieder auf, um gegebenenfalls vor dem schlimmsten Wetter geschützt zu sein. Stefan entdeckte irgendwo eine ausrangierte Wagenplane und legte sie auf den torfigen, modrig riechenden Boden. So hatten wir eine Unterlage, und wenn wir froren, deckten wir uns mit seinem langen Kamelhaarmantel zu.
    Wir lachten viel, aber wir lernten auch voneinander: über unsere Sprache, unsere Kultur und wie wir die Welt sahen. Dabei

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