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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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fanden wir heraus, wie ähnlich wir trotz aller Unterschiede letztlich dachten. Eines Abends waren wir so miteinander beschäftigt, dass wir die Zeit vergaßen und im Dunkeln den glitschigen Balken, unter dem das Wasser toste, passieren mussten.
    Wir kamen heil auf die andere Seite zurück, doch die Sache gab uns zu denken. Wir brauchten einen anderen Treffpunkt – einen trockenen, warmen Ort, nicht zu weit von zu Hause entfernt, den wir beide unbeobachtet und zudem ohne Lebensgefahr erreichen konnten.
    Aber wo?
    An einem kalten Morgen, während ich im Dielenschrank nach meinem Schal und Handschuhen kramte, brachte mich ein Netz mit Tennisbällen, die dort eigentlich nichts zu suchen hatten, auf eine Idee.
    Während ich die Bälle, die überall herumrollten, aufsammelte und leise vor mich hin schimpfte, weil ich ohnehin schon zu spät zur Arbeit kam, erinnerte ich mich an die Tennishütte bei unserem kaum noch benutzten Platz. Sie lag direkt hinter der Streuobstwiese, und ich würde innerhalb weniger Minuten vom Kastanienhaus dort sein. Hastig kritzelte ich eine Nachricht für Stefan auf einen Zettel, zeichnete einen Lageplan und steckte ihm beides während der Frühstückspause zu. Ich konnte es kaum erwarten, ihn zu sehen.
    Als ich an diesem ersten Abend dort hinging, hatte ich an alles gedacht, bloß nicht an eine Taschenlampe. Und so tastete ich im Dunkeln unter der Traufe der Hütte nach dem Schlüssel, der üblicherweise dort versteckt war. Bis ich ihn gefunden hatte, waren Knie und Hände schmutzig und voller Laubmulch, aber ich hatte das Gefühl, eine Schlacht geschlagen zu haben. Als sich dann auch noch der Schlüssel in dem rostigen Schloss drehte und ich die Tür öffnete, war es geschafft.
    Drinnen war es stockdunkel, und es roch penetrant nach Desinfektionsmitteln. Strom gab es keinen, was uns ohnehin nichts nutzte, solange wir das Fenster nicht verdunkeln konnten. Abgesehen davon legten wir keinen Wert darauf, dass ein weithin sichtbares Licht aus der Tennishütte uns verriet. Ich stolperte über das zusammengerollte Netz und stieß mir den Ellenbogen an etwas Großem, Hölzernen mitten im Raum an. Der Schiedsrichterstuhl.
    Ich fluchte vor mich hin, doch sobald Stefan ankam, fühlte ich mich sofort besser. Er lachte über mein Missgeschick, und wir küssten uns, als hätten wir uns seit Monaten nicht gesehen. Na ja, eine Woche ist für Frischverliebte auch ganz schön lang.
    Nach einer Weile begannen wir gemeinsam die Hütte zu erforschen, wischten klebrige Spinnweben weg und bahnten uns einen Weg bis zur Rückwand, wo wir einen kleinen Gartentisch, eine halb zusammengebrochene Bank und ein leicht feuchtes Kissen entdeckten.
    » Als hätten wir unser eigenes kleines Haus « , sagte Stefan und hielt die Hand vor die Flamme, als er uns zwei Zigaretten anzündete.
    Es war perfekt.
    Beim nächsten Mal brachte er Verdunkelungsstoff und Reißzwecken mit, sodass wir eine Kerze anzünden konnten. Er legte seinen Mantel auf die kratzige Sisalmatte, und wir hielten und küssten uns und schmeckten und rochen und erforschten einander immer wagemutiger. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, wuchs unser Verlangen, wurden unsere Liebkosungen gewagter. Ich mochte es, wenn er seine langen, schlanken Glieder um mich schlang, und zählte fünf neue schwarze Haare auf seiner ansonsten glatten Brust. Er bewunderte die Weichheit meiner Haut – seidene Lily nannte er mich – und entdeckte das Muttermal auf der Rückseite meines Oberschenkels, das ich schon fast vergessen hatte. » Es hat die Form einer Maus « , sagte er und küsste es. » Meine Lilymaus. «
    » Ich habe etwas mitgebracht, das ich dir zeigen möchte « , sagte er eines Abends und zog einen kleinen gelbbraunen Umschlag aus seiner Tasche. Darin befanden sich drei kleine, schon recht abgegriffene Schwarz-Weiß-Fotografien seiner Familie, die er mir eine nach der anderen reichte. Sie waren für ihn sein kostbarster Besitz, das merkte ich an der Art, wie er mit ihnen umging. Da war sein Vater Isaak, groß und ernst, mit dem gleichen dichten, schwarzen Haarschopf wie der Sohn, und ich fand, dass Stefan ihm ähnlich sah. Seine Mutter Hannah hingegen war viel kleiner und hellhaarig. Auf dem Foto hatte sie die Arme schützend um ihre identisch aussehenden Zwillingsmädchen gelegt. Anna und Elsa, zwei kleine blonde Engel.
    Während wir die Fotografien betrachteten, fing er an, freier als je zuvor, über seine Familie und seine Kindheit zu erzählen. Es klang idyllisch:

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