Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
noch einmal auf und kaute nachdenklich auf ihrer Lippe, so als erwarte Dominga eine richtige Antwort auf diese Frage.
»Vielleicht würden sie uns wieder fortschicken«, sagte sie schließlich. »Wenn die Königin den Verstand verliert, dann braucht sie dich vielleicht nicht mehr. Oder kannst du sie heilen?«
Dominga schüttelte den Kopf. »Nein, das liegt leider nicht in meiner Macht. Ich werde ihre trüben Tage voller Traurigkeit und Tränen ein wenig aufhellen können, doch heilen kann ich sie nicht.«
»Das wird Isabel nicht gefallen«, überlegte Jimena. »Dann sollte ich ihr wohl auch davon nichts erzählen?«
»So ist es, mein Kind, und nun schlaf!«, wiederholte Dominga und blies die Kerze auf der Kleidertruhe aus.
Beatriz’ Befürchtungen sollten sich als unbegründet erweisen. Die drei Mädchen verstanden sich bereits nach den ersten Tagen prächtig. Zuerst zeigten Isabel und Beatriz der neuen Gefährtin jeden Winkel des alten Palasts bis in die Kellergewölbe hinunter, die verwinkelt, feucht und dunkel waren – ein idealer Ort, um Verstecken zu spielen. Bei schönem Wetter gingen die Mädchen in den kleinen Garten hinauf, doch zu Jimenas Überraschung hatte auch keiner im Palast etwas dagegen einzuwenden, wenn die Mädchen durch die Stadt streiften. Man schickte ihnen zwar meist eine Magd mit, die ein wenig gelangweilt, doch immerhin mit so viel Abstand hinter ihnen hertrottete, dass sie sich ungestört unterhalten konnten, und die den Kindern keine Vorschriften machte. Meist war auch die kleine stumme Teresa in ihrem Kielwasser zu finden, da die Königinwitwe kaum mehr von Dominga lassen wollte und sie täglich stundenlang in ihren Gemächern beanspruchte. Jimena hatte nur eine vage Vorstellung von dem, was sie von ihr verlangte, denn die Talente ihrer Tante waren vielfältig. Sie verstand sich auf heilende Kräuter und deren Zubereitung in allerlei Tinkturen, Tropfen und Pasten, sie kannte sich mit den Sternen aus und mit dem Aderlass, und sie verfügte über die ganz speziellen Kräfte, die man nur noch bei wenigen Menschen – vor allem Frauen – fand. Immer wieder musste sie der Königin die Karten legen und ihr irgendetwas erzählen, was sie zu hören wünschte. Dass man aus diesen kleinen, bunten Bildkarten etwas Sinnvolles herauslesen konnte, bezweifelte Jimena, doch wenn Isabel von Portugal es so wollte?
So blieb es meist Jimena überlassen, sich um die kleine Teresa zu kümmern, was aber weder sie noch die anderen beiden Mädchen störte. Da das Kind stumm war, plapperte es nicht dazwischen und belästigte sie nicht mit Fragen oder eigenen Wünschen. Sie war auch sonst keine Belastung, da sie nicht weglief, sondern meist in der Nähe saß, den Blick unverwandt auf die älteren Mädchen gerichtet, die Augen weit aufgerissen. Es war, als könne sie jedes Wort verstehen und würde sich jeden Satz für alle Ewigkeit merken. Es war fast ein wenig unheimlich. Doch meist vergaßen die Mädchen fast, dass sie überhaupt mit dabei war. Isabels Bruder Alfonso dagegen ließ sich nur selten bei den Mädchen blicken. Meist sahen sie ihn nur am Abend, wenn sich alle unter dem strengen Blick der Königinwitwe in der Halle trafen. Was er den Tag über so trieb, wusste Jimena nicht, und es interessierte sie auch nicht besonders. Er hatte einen eigenen Lehrer, einen Dominikanermönch, der ihn unterrichtete, und wohl auch eigene Spielkameraden.
Arévalo war keine große Stadt, sodass man nicht fürchten musste, die Mädchen könnten verloren gehen. Die von hohen Mauern umgebene Stadt hatte die Form eines Dreiecks, auf dessen ein wenig emporgereckter Spitze die Mauern des Castillo aufstiegen. Zu ihren Füßen flossen die beiden Flüsse Adaja und Arevalillo zusammen und boten der Stadt mit ihren steilen Uferböschungen einen natürlichen Schutz. Die Ostseite der Stadt, wo sich am Plaza del Real der Palast erhob, war dagegen mit einer doppelten Mauer aus Millionen durch Mörtel fest miteinander verbundenen Ziegelsteinen und einem Graben geschützt. Auch die meisten Häuser und Kirchen waren aus Ziegeln gebaut, da es hier auf der Hochebene zwischen dem Gebirgszug der Cordillera Central und dem Tal des Duero an Steinen mangelte, die als Baumaterial geeignet gewesen wären.
Fünf Tore, die nachts stets sorgfältig verschlossen und zu jeder Stunde bewacht wurden, führten in und aus der Stadt, um das Leben der Christen, Juden und Mauren, die hier zusammenlebten, zu bewachen. Natürlich stellten die Christen den
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