Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Hauptteil der Bevölkerung, und sie nahmen auch die meisten wichtigen Posten der Stadt ein, doch Arévalo nannte nach Ávila die größte Judería ihr Eigen, was nicht zum Nachteil der Stadt schien, sondern ihren Wohlstand mehrte. Außerdem traf man, wie überall, auf die langen Gewänder und leuchtenden Turbane der Mauren, die sich meist als gefragte Baumeister, Künstler und Meister allerlei Handwerks beliebt machten. Natürlich gab es auch Differenzen und manche unschöne Szene des Neids, doch meist war das Stadtleben von Geschäftigkeit geprägt, die in Harmonie besser gedieh als im Streit, das wussten die Händler und Handwerker aller drei Religionen sehr wohl.
Jimena liebte es, durch die Stadt zu streifen und in das bunte Leben der Gassen einzutauchen. Ab und zu besuchten sie auch Beatriz’ Vater in der Burg, scherzten mit den Wachmännern auf dem Turm oder in den Wehrgängen oder ließen sich in der Küche mit Süßigkeiten verwöhnen. Wenn die Nacht hereinbrach, ließ der Burgvogt die Kinder von einem seiner Männer zum Palast zurückbringen, wo sie sich der Tradition gemäß im Saal einzufinden hatten, wenn das Nachtmahl serviert wurde, und man sich danach unterhielt oder einem Spielmann lauschte, bis es Zeit wurde, ins Bett zu gehen. Manches Mal zeigten auch Gaukler oder andere fahrende Leute ihre Kunststücke. Sie schluckten Feuer, tanzten mit Schwertern oder hatten Tiere bei sich, die die Mädchen entzückten oder schaudern ließen. Am liebsten jedoch mochten die Mädchen den Mauren Ibn al-Mansûk, der allein schon mit seinen dichten weißen Augenbrauen, dem langen, weißen Bart und den durchdringenden dunklen Augen, mit denen er unter seinem Turban hervorblickte, eine eindrucksvolle Persönlichkeit darstellte. Und dann erst seine Geschichten!
»Bitte, erzählt uns vom großen Cid«, baten die Mädchen beispielsweise, wenn sie wieder eine seiner Heldengeschichten hören wollten.
»Aber bleibt bei der Wahrheit«, mahnte die alte Königin mit strengem Blick.
»Ich erzähle stets die Wahrheit«, gab der maurische Geschichtenerzähler zurück. »Nur dass nicht jeder die gleiche Wahrheit liebt. Welche wollt Ihr heute hören? Die, in der Rodrigo Díaz de Vivar als christlicher Held für seinen König Sancho streitet? In der sich der Ritter dem unerbittlich vorrückenden Yûsuf ibn Tâshufîn entgegenstellt? Oder die, in der as-Sayyid, wie wir ihn nennen , heldenhaft für den maurischen Fürsten al-Mu’tamin von Saragossa kämpft? Oh ja, er hat eine herausragende Söldnertruppe aufgestellt und seinen christlichen Widersachern einiges an Kopfzerbrechen beschert.«
Isabel von Portugal war empört, doch der Geschichtenerzähler kicherte nur und wandte sich wieder an die Mädchen, die mit weit aufgerissenen Augen an seinen Lippen hingen.
»Der große Cid heiratete übrigens ein Mädchen deines Namens. Jimena Díaz, die Tochter des Grafen von Oviendo.«
»Erzählt uns von ihr!«, rief Beatriz und klatschte in die Hände. »War sie ein schönes Mädchen? Hat sie sich in den Cid verliebt?«
Und von da an verließ die Erzählung die politischen Klippen, die zu Unmut auf der einen oder anderen Seite hätten führen können, und wandte sich der hohen Kunst der Minne zu, bei der es weniger um die Wahrheit und mehr um den Eindruck ging, den die Geschichte bei seinen gebannt lauschenden Zuhörerinnen zurückließ.
So verliefen sechs Jahre in Jimenas Leben in Ruhe und in Eintracht mit ihren Freundinnen Beatriz und Isabel, bis eines Tages ein Bote vom Hof König Enriques IV. aus Segovia eintraf und den Frieden der Kinder störte.
Kapitel 3
Segovia, 1464
Es war einer der milden Frühlingsabende in der Weite der Tierra de Campos, doch wie immer war es in dem alten Palast in Arévalo kühl und feucht, sodass jeder für ein Feuer im Kamin dankbar war. Das Mahl war bereits vorüber, und die Mädchen zogen sich auf den Diwan zurück, wo sie sich leise unterhielten und sich unter der Anleitung einer der Damen an ihren Stickmustern versuchten. Während sich Isabel und Beatriz redlich bemühten, die feinen Stiche gleichmäßig aneinanderzusetzen, war Jimena nicht bei der Sache. Ihr Blick glitt immer wieder zur Tür, und ihre Gedanken eilten hinaus in die anbrechende Nacht.
»Was ist mit dir?«, erkundigte sich Isabel, der die Unruhe der Freundin nicht verborgen blieb.
Jimena seufzte tief. »Ich habe diese Stunden hier auf dem Diwan immer geliebt.«
»Ja, und?«, fragte Beatriz, ohne von ihrer Stickerei aufzusehen.
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