Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
erleichtert Sie, wenn Sie es herauslassen. Ich sehe es in Ihrem Gesicht, dass Sie etwas quält.«
»Nur die Ungewissheit, Comisario Martinez.«
Er nickte und trat hinter seinen Schreibtisch zurück, den einer der Beamten des Reviers in Tordesillas ihm hatte überlassen müssen.
»Gut, ich sehe, so kommen wir nicht weiter. Dann fangen wir es anders an.« Er öffnete ein Notebook, steckte seitlich einen Speicherstick ein und klickte sich durch irgendein Menü. Dann forderte er Isaura auf, mit ihrem Stuhl näher zu rücken.
»Kommen Sie, Señora, und sehen Sie sich das an. Und dann erklären Sie mir, wie Sie das Wunder vollbringen konnten, ohne auch nur einen Kratzer dort herauszukommen!«
Den Blick fest auf ihr Gesicht gerichtet, drehte er das Notebook um, bis sie das Foto auf dem Monitor sehen konnte. Isaura erstarrte. Es war entsetzlich, und doch sagte etwas tief in ihrem Innern, dass sie dieses Bild schon einmal gesehen hatte. Größer. Näher. In Wirklichkeit.
Wenn sie es nicht wüsste, dann hätte sie den Wagen, den sie vor einigen Tagen am Madrider Flughafen gemietet hatte, nicht wiedererkannt. Ja, es war sogar nicht einfach, über haupt ein Auto in diesen verdrehten Blechmassen zu erkennen, die auf der Seite liegend eingekeilt zwischen einem Baum und einem roten Felsen steckten.
Endlich verstand Isaura die ungläubigen Fragen und das ganze Misstrauen. Wenn man dieses Bild vor Augen hatte, konnte man sich nicht vorstellen, wie ein Mensch dort lebend herausgeholt werden konnte. Und ihr fehlte rein gar nichts! Kein Kratzer, keine Prellung – nur die Erinnerung war verschwunden.
Also hatte sie doch nicht in dem Auto gesessen? Wo aber war sie dann gewesen? Und warum konnte sie sich an das splitternde Glas und an das Schleudern des Wagens erinnern?
Und Justus? Es durchfuhr sie eiskalt. Sie hatten ihn aus diesem zerdrückten Blechhaufen gezogen. Wie schwer waren seine Verletzungen?
»Können Sie mir sagen, wie es meinem Mann geht? Wann darf ich ihn sehen?«
Comisario Martinez zuckte mit den Schultern. »Ich kann Ihnen keine medizinischen Auskünfte geben, doch wenn Sie es wünschen, kann ich Sie nachher in die Klinik nach Valladolid begleiten. Vielleicht hilft dort einer der Ärzte Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge.«
Isaura spürte, dass er nicht so ganz an ihre Erinnerungslücke glaubte.
»Möchten Sie, bevor wir aufbrechen, noch telefonieren und einen Anwalt zurate ziehen?«
»Brauche ich denn einen?«, gab Isaura kühl zurück. Selbst wenn sie sich nicht an alles erinnern konnte, war sie sich doch sicher, dass sie nichts getan hatte, was strafrechtlich verfolgt werden musste. Ganz gleich, wie sehr sie das Gefühl von Schuld bedrückte. Das war etwas anderes. Hoffte sie zumindest.
Noch einmal kam ihr der Kommissar sehr nahe und blies ihr den Zigarettenrauch ins Gesicht. »Das ist Ihre Entscheidung, Señora Thalheim. Bisher ermitteln wir nur wegen des Verdachts auf schwere Körperverletzung, doch wer weiß, vielleicht könnte daraus ja bald der Verdacht auf Totschlag oder gar Mord werden.«
Isaura sprang mit einem Entsetzensschrei auf. »Steht es so schlimm um Justus? Ich muss sofort zu ihm!«
Der Comisario nahm sein Jackett von der Stuhllehne und schlüpfte hinein. »Gut, gehen wir.« Er reichte Isaura ihr Handy, das in der vergessenen Handtasche aus dem Wrack geborgen worden war.
»Sie könnten ja den Anwalt anrufen, mit dem sie erst vor wenigen Tagen gesprochen haben«, meinte er zu beiläufig, als würde er nicht geradezu auf ihre Antwort lauern.
Isaura verdrehte die Augen. »Ja, das könnte ich, aber da Sie ja schon so gut recherchiert haben, wissen Sie auch, dass ich den Anwalt Señor Campillo Fernández aus Segovia wegen einer Erbschaft aufgesucht habe. Ich glaube nicht, dass Strafrecht zu seinen Spezialgebieten gehört.«
»Mag sein«, sagte der Kommissar nur und führte sie zu seinem Wagen. Isaura rutschte auf den Rücksitz des alten Peugeot, dessen Farbe unter der dicken Staubschicht nur zu ahnen war. Zögernd sah sie auf ihr Handy herunter, dann rief sie den Anwalt an, erreichte aber nur seine Sekretärin. Falls Isaura wirklich einen Rechtsbeistand benötigte, würde er ihr sicher einen Kollegen nennen können, bei dem sie in guten Händen war – falls die Dame am anderen Ende überhaupt etwas von dem verstand, was sie ihr sagte. Isaura war sich da nicht sicher. Sie würde es später noch einmal versuchen müssen.
Der Comisario setzte sich ans Steuer und fuhr los. Obwohl er so tat,
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