Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
als würde er sich auf die Straße und seine Zigaretten konzentrieren, die er eine nach der anderen rauchte, spürte Isaura, dass er sie im Rückspiegel beobachtete. Sie versuchte sich an einer unbeteiligten Miene und wandte den Blick aus dem Fenster, ohne etwas von der vorbeirauschenden Landschaft wahrzunehmen. Sie versuchte etwas anderes zu sehen: Was genau war in der vergangenen Nacht vorgefallen? Wie war es zu dem Unfall gekommen? Wie konnte es sein, dass Justus schwer verletzt und sie völlig unversehrt aus dem Schrotthaufen gekommen war? Und wie war sie zurück zu ihrem Häuschen nach Tordesillas gelangt?
Isaura strengte sich an, bis ihr Kopf zu dröhnen begann, doch ihr Geist ließ sich keine Antworten abringen. Stattdessen wich er immer wieder aus und riss sie weit in die Vergangenheit zurück, in die Zeit der großen Königin, die einen ganz anderen Kampf auszufechten hatte.
Kapitel 29
Segovia, 1473
Segovia, endlich! Jimena ließ den Blick die Stadtmauer hinaufwandern, bis er sich an dem prächtigen Alcázar festsaugte, der stolz im Mittagslicht über der höchsten Klippe aufragte. Es war ein Gefühl, als würde sie heimkommen. So viele Erinnerungen ihrer Jugend waren mit Segovia verbunden. Gute und schlechte. Im Augenblick jedenfalls kam ihr der Palast wie das schimmernde Trugbild eines Traums vor, der das Ziel all ihrer Wünsche war. Und den anderen ging es nicht anders.
»Ein Badezuber mit heißem Wasser«, seufzte Beatriz. »Frische Kleider und eine Suppe mit viel Fleisch und war mem, frischem Brot.«
»Das kannst du sicher bald haben«, versprach Isabel.
Andrés de Cabrera ritt ihnen vor der Stadt entgegen und führte sie zu einer der Nebenpforten, durch die sie Segovia unbemerkt betraten. Er führte sie zuerst zu seinem Stadthaus, wo sie die Spuren der Reise tilgen konnten. Beatriz strahlte zu ihm auf, sodass man ihr die Strapazen des langen Ritts für einen Moment nicht mehr ansah.
»Wo ist Enrique?«, erkundigte sich Isabel. »Wann werde ich ihn sehen? Weiß er bereits etwas?«
Andrés schüttelte den Kopf. »Er ist völlig ahnungslos. Wer erwartet zu dieser Jahreszeit schon Besuch von jenseits der Berge? Nein, nicht einmal der Marquis von Villena ahnt etwas von diesem Schritt. Der König ist heute Morgen beim ersten Licht des Tages auf die Jagd geritten. Ich werde ihm einen Boten nachsenden, der ihn vom Eintreffen seiner Schwester unterrichtet, und dann müssen wir sehen, wie er reagiert.«
Kaum zwei Stunden später – die Damen hatten gerade genug Zeit gehabt, um sich zu waschen, die Kleider zu wechseln und ein einfaches Mahl zu sich zu nehmen – entstand draußen auf der Gasse Unruhe. Ein Page kam aufgeregt in die Halle gerannt, wo sich alle an der Tafel niedergelassen hatten, und verkündete, dass der König käme!
»Auf seinem großen schwarzen Jagdpferd. Die Hunde hat er auch mit dabei und zwei seiner Jäger«, rief der Knabe.
Isabel schob den Teller von sich, erhob sich und strich ihre Röcke glatt. Dies war aber auch das einzige Zeichen, das eine mögliche Anspannung verriet, dabei wusste sie genau, wie viel davon abhing, wie diese erste Begegnung verlief.
Auch die anderen erhoben sich von der Tafel, als ein Diener bereits den König meldete. Mit großen Schritten trat er in die Halle und sah sich suchend um, bis er Isabel entdeckte.
»Es ist also wahr, was der Bote mir berichtet hat. Meine Schwester Isabel ist nach Segovia gekommen!«
Die Worte klangen ein wenig ungläubig. Der König war unsicher, wie er reagieren sollte. Da stand er nun, so wie Jimena ihn in Erinnerung hatte, nur dass er statt seiner langen, maurischen Gewänder heute Stiefel, Hosen und Jagdwams trug. Doch noch immer waren das rote Haupthaar und der Bart eher ungepflegt zu nennen, und er wirkte mit seinen zu langen, schlaksigen Gliedern ein wenig unbeholfen. Nein, wie ein König sah Enrique nicht aus. Dagegen konnte man Isabels Auftreten gar nicht anders als als königlich bezeichnen! Es lag in ihren Händen, es in die eine oder andere Richtung zu wenden. Jimena hielt den Atem an, als sie auf ihn zuschritt. Sie versuchte, in den Geist des Königs einzudringen und seine Stimmung ein wenig zu formen, sollte es nötig werden.
»Liebster Bruder, ja, ich bin es wirklich. Ich habe es nicht länger ausgehalten, dass Unfriede und Missverständnisse zwischen uns herrschen. Und so bin ich bei Eis und Schnee über die Berge gezogen, um dir von Angesicht zu Angesicht ge genüberzustehen und dir meine Hand zu reichen.
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