Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
früh am Morgen und noch recht kalt. Isaura saß auf ihrer Bank vor dem Haus und sah in den Sonnenaufgang. Der Ball erhob sich in tiefem Rot und begann dann zu glühen. Sie streichelte mechanisch den Kater an ihrer Seite. Ihre Hand war schmutzig braun wie von getrocknetem Blut, und auch ihr Haar und ihr Gesicht fühlten sich schmutzig und klebrig an. Ansonsten spürte Isaura nichts. Auch die Kälte drang nicht bis zu ihr durch, obwohl sie noch immer nur leichte Hosen und das kurzärmelige Shirt vom Vortag trug. Sie saß einfach nur da und sah zu, wie die Sonne sich erhob, während ihre Gedanken wirr durch vergangene Zeiten huschten. Einmal war ihr, als trete eine schattenhafte Gestalt aus dem Haus und geselle sich zu ihr. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und verharrte dort, ohne dass Isaura reagierte. Dann verwehte der Schatten unvermittelt. Der Kater hob den Kopf. Ein Dröhnen mischte sich unter das Zwitschern der Vögel. Der Motorlärm kam näher, dann holperte ein Wagen auf den Hof.
Isaura blieb regungslos sitzen, ohne den Blick von der Sonne zu wenden, deren Licht inzwischen so grell war, dass es in den Augen schmerzte und ihr Tränen über die Wangen herabrinnen ließ.
»Señora Thalheim? Isaura Thalheim?«, erklang die Stimme eines Mannes. Ein Schatten fiel auf ihr Gesicht und verdeckte die Sonne. Unwillig wandte Isaura den Kopf und sah den jungen Mann in Uniform an, der es wagte, ihre Einsamkeit zu stören. Ein Polizeiauto stand mitten im Hof, und ein zweiter Beamter lehnte über der offenen Fahrertür. Ein Schwall spanischer Wörter prasselte auf sie herab. Träge schüttelte Isaura den Kopf.
»Ich verstehe kein Wort«, sagte sie und hörte selbst, dass sich ihre Stimme seltsam schleppend anhörte, als habe sie zu viel getrunken. Sie sah, dass der Polizist die Augenbrauen hob. Vielleicht kam ihm ein ähnlicher Verdacht.
Hatte sie denn etwas getrunken? Isaura konnte sich nicht erinnern. Ihr Hirn war überhaupt seltsam leer. Nein, leer war der falsche Ausdruck. Es war vollgestopft mit wirren Fetzen von Bildern und Stimmen, die aber keinen Sinn ergeben wollten.
Der Polizist versuchte es noch einmal, wobei er allerdings ins Englische wechselte. »Señora Thalheim? Darf ich Sie bitten, mir einige Auskünfte zu geben?«
»Wenn es sein muss«, seufzte sie. Vielleicht fuhren die beiden Polizisten wieder davon, wenn sie ihnen geantwortet hatte, und ließen sie in Ruhe die Sonne betrachten.
»Ist es richtig, dass Sie am Sonntag, den 25. März 2012, einen silbernen Seat Ibiza am Flughafen von Madrid angemietet haben? Mit dem Kennzeichen …« Er kramte einen Zettel aus der Hosentasche und las ihr die Autonummer vor.
Isaura überlegte. »Ja, silbern war er, und es könnte ein Seat gewesen sein. Die Nummer müsste ich nachsehen. Ich muss nur meine Tasche suchen, dann kann ich es Ihnen sagen.« Sie erhob sich und sah sich verwirrt um. Wo hatte sie die Tasche hingelegt? Im Wagen? Nein, der war nicht da. Wo war er überhaupt?
»Ist dies Ihre Tasche?«, fragte der andere Polizist, der irgendwie plötzlich neben seinem Kollegen stand. Er war deutlich älter, hatte graues Haar und trug einen seltsamen Bart.
»Ja, danke«, sagte Isaura. »Wo haben Sie die denn her?«
»Aus dem Wagen, den Sie gemietet haben!«
»Ach ja? Und warum fragen Sie dann?«
»Weil uns interessiert, ob Sie wissen, wo sich der Wagen im Augenblick befindet.«
Isaura sah sich im Hof um. Sie war sich sicher, dass sie immer dort unter dem Nussbaum geparkt hatte. Aber da stand er nicht.
»Ich weiß nicht recht«, sagte sie. »Er ist weg. Sonst stand er immer da.«
Die beiden Männer tauschten einen Blick. »Dann glauben Sie, der Wagen wurde gestohlen?« Sie konnte aus ihren Gesichtern lesen, für wie absurd sie diesen Einfall hielten.
»Ich weiß nicht.«
»Haben Sie den Wagen vielleicht verliehen? An Ihren Mann, Justus Thalheim?«
»Justus?« Wieder runzelte sie angestrengt die Stirn. Sie empfand Zorn und Schmerz, ja, aber auch Schuld. Was war mit Justus? Die Gedankenfetzen wirbelten umher und wollten sich einfach nicht einfangen lassen.
Der junge Polizist beugte sich vor und ergriff ihre Hand. Isaura versuchte sie ihm zu entziehen. Es stand ihm nicht zu, ihre Hand zu nehmen, doch der Griff verstärkte sich.
»Sind Sie verletzt, Señora? Sie haben hier getrocknetes Blut auf der Hand, und auch auf ihren Kleidern sind Blutflecken.«
Hecktisch sah Isaura an sich herunter. »Nein, mir fehlt nichts. Ich weiß nicht, wie das passieren
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