Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
musste gereinigt werden. Sie begutachtete jedes Stück und packte es dann sorgfältig wieder ein. Dann hob sie eine Kette aus massiven, goldenen Gliedern aus ihrem Samtbett. Edelsteine schimmerten in verschiedenen Farben. Ein schwerer Armreif folgte. Konnten das Diamanten sein? Sie waren verdammt groß!
Weitere Schmuckstücke folgten. Sie mussten alle sehr alt sein, schienen aus massivem Gold zu sein und waren mit verschiedenen Edelsteinen besetzt. Isaura starrte auf das Vermögen vor ihr herab.
War das möglich? Hatte ihre Großtante Carmen all diese Schätze besessen und dennoch so bescheiden hier auf dem Land gelebt? Isaura sah Justus in ihrem Geist, der fassungslos den Kopf schüttelte. Für ihn würde das keinen Sinn ergeben. Und er würde sich darüber aufregen, wie leichtsinnig Carmen gewesen war, diesen Schatz in einer Schachtel in ihrer Kammer aufzubewahren! Doch Isaura verstand. Oder zumindest stieg in ihr eine Ahnung auf, wie Carmen es gesehen hatte. Für sie waren das keine Werte, die man in Geldbeträgen ausdrückte. Das war Carmens Vergangenheit, ihre Identität, ihre Familiengeschichte.
Ja, so ist es. Meine und deine Geschichte, hallte es mit geradezu zärtlicher Stimme durch ihren Geist.
Fast widerstrebend verstaute Isaura den Schmuck wieder in seinen Behältern und stapelte diese in der Kiste.
Was sollte sie nun damit anfangen? Es schien ihr unmöglich, diese Werte hier ungesichert in dem Häuschen mitten im Nirgendwo zu lassen, und genauso erschien es ihr als ein Sakrileg, sie aus dem Haus zu entfernen, um sie vielleicht in irgendeinem kalten Schließfach einer Münchner Bank einzusperren oder sie gar zu verkaufen.
Sie würde sich mit Señor Campillo besprechen. Der alte Anwalt wusste bestimmt Rat. Morgen. Jetzt, so beschloss sie, würde sie ihre Schatzsuche erst einmal fortsetzen.
Isaura öffnete noch mehr Kartons, und überall stieß sie auf Dinge, die Hunderte von Jahren alt zu sein schienen. Nichts von dem wertlosen Trödel, den man sonst auf Dachböden oder in solchen Kammern fand. Im Grunde war es wie ein kleines Museum, in dem ein längst vergangenes Jahrhundert im Schatten der Vergessenheit weiterlebte.
Ein Flüstern und Rascheln schien aus der Ecke zwischen den Kleidern und den letzten verschlossenen Kisten aufzusteigen. Isaura hob den Kerzenleuchter hoch, bis die Schatten bereit waren zu weichen. Vielleicht hatten sich dort Mäuse eingenistet. Das war in einem solch alten Haus mehr als nur wahrscheinlich, doch sie konnte nichts entdecken. Außerdem sahen weder die Kisten noch die Gewänder angenagt aus, und Kot war auch nicht zu sehen. Was für ein Glück!
Isaura wandte sich der nächsten Kiste zu. Sie war länger und flacher als die anderen. Neugierig zog sie sie näher ins Licht. Was war denn das? Leinwandrollen. Vorsichtig nahm sie eine heraus und entrollte sie. Das Gesicht, das ihr entgegenstarrte, ließ sie die Luft scharf einziehen. Erst Augenblicke später erkannte sie ihren Irrtum. Nein, das war nicht sie selbst, die ihr entgegenblickte, auch wenn Gesichtszüge, Augen und Haar zu stimmen schienen. Das war wieder die unbekannte Schöne von dem Gemälde aus dem Buch der Redaktion. Endlich klärte sich das Rätsel, und es war ihr, als fiele ihr ein Stein vom Herzen. Das erklärte auch die Sache mit dem Schmuck.
So unglaublich es schien, doch diese Frau musste eine Ahnin von Großtante Carmen gewesen sein. Und sie war damit auch eine ihrer eigenen Vorfahrinnen. Mit einem verzückten Lächeln sah sie auf die Frau herab, die in diesem Bild nicht ganz so ernst blickte. Sie war jünger als auf dem Gemälde in dem Buch, stellte Isaura fest. Die tiefe Trauer spiegelte sich noch nicht in ihrem Blick.
Was war wohl in der Zeit geschehen, die zwischen den Entstehungsphasen der beiden Bilder gelegen hatte? Ein Schicksalsschlag, ohne Zweifel. Was konnte das gewesen sein?
Sie dachte darüber nach, während sie ein Bildnis nach dem anderen entrollte. Sie fand noch die Konterfeis anderer Frauen und ein paar Skizzen von Kindern. Zwei stellten wohl die inzwischen so vertraute Unbekannte dar, doch es gab kein einziges Bild, auf dem ein Mann zu sehen gewesen wäre.
Warum nur? Diese Frauen konnten ja nicht alle unverheiratet geblieben sein. Nein, wenn es hier wirklich um Carmens Familie ging, dann musste es Ehemänner gegeben haben und auch Söhne. Hatten sie in dieser von Männern dominierten Welt bewusst nur die Linie der Frauen überliefert?
Na, wenn ihre Männer und Söhne das wüssten,
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