Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Augen und tastete über die geschliffenen Steine und Perlen. Ja, genauso fühlte es sich an. Genauso musste es sich anfühlen!
Sie ging ins Bad und betrachtete ihr Gesicht im trüben Licht der Lampe in dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken, doch sie sah nicht sich selbst. Sie sah die Frau aus dem Gemälde, in deren Blick so viel Schmerz stand. Sie blickte Isaura aus dem Spiegelglas heraus an, ohne zu blinzeln oder den Blick von ihr abzuwenden. Isaura zuckte zurück und rannte in die Küche. Mit klopfendem Herzen ließ sie sich auf die Bank fallen. Sie hatte nicht nur das gesehen, was auf dem Gemälde zu erkennen war, sondern auch den Rest des Raumes, der fast in den düsteren Schatten verschwand, und den Maler, der mit gerunzelter Stirn hinter seiner Staffelei stand.
Das ging nun echt zu weit! Sie musste ihre Fantasie zügeln. Energisch schlug Isaura das Buch zu und legte das Collier in seine Schachtel zurück. Sie wollte auch nicht weiter der Caminata durch ihre Zeit folgen – zu sehr fürchtete sie, ihre Beschreibungen könnten ihre Fantasie wieder zu lebendig werden lassen. Aber was sollte sie dann mit dem Abend beginnen? Zum Ausgehen verspürte sie keine Lust, und die Chance, dass Marco um diese Zeit noch vorbeikommen würde, schätzte sie gegen null. Außerdem würde er sicher nicht so schnell wieder bei ihr aufkreuzen. Das würde zu aufdringlich wirken und konnte sie in eine Abwehrhaltung drängen. Zu frisch waren noch das Aus ihrer Ehe und all die Dramen um Justus und den Unfall. Ja, genauso war es. Marco schien die Gabe zu haben, Menschen und ihre Reaktionen einschätzen zu können. Zumindest bei Isaura gelang ihm das erstaunlich gut.
Was also dann?
Die Kammer! Sie hatte schon vor Tagen eine niedrige, hinter einem Schränkchen versteckte Tür an der hinteren Wand des Arbeitszimmers entdeckt, hinter der sich – da war sie sich nach genauer Betrachtung der Baulichkeiten sicher – eine kleine Kammer verbergen musste. Keiner der Schlüssel am Bund, den der Anwalt ihr gegeben hatte, passte zu dem winzigen Schloss in dieser Tür. Die Kammer konnte kaum mehr als vier oder fünf Quadratmeter groß sein, doch vielleicht hatte Großtante Carmen dort etwas aufbewahrt, das Isaura interessieren und ihr den einsamen Abend vertreiben konnte. Irgendwie würde es ihr schon gelingen, das Schloss zu öffnen. Entschlossen machte sich Isaura auf den Weg die Treppe hoch. Obwohl die Sachen aus der kleinen Kammer ihr jetzt ebenfalls gehörten, verspürte sie einen Anflug von schlechtem Gewissen.
In der Ferne erleuchtete ein Blitz die Wolkendecke, der Donner ließ aber auf sich warten. Isaura blieb stehen und sah aus dem Fenster ihrer Schlafkammer, wie ein Zucken und Flackern die bauchigen Wolken immer wieder für einen Wimpernschlag lang voneinander schied. Ein Schauder rann über ihren Rücken, und sie spürte die Spannung in der Luft, wie damals auf dem Platz in Tordesillas, dem Jardín de Palacio . Isaura spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten. Die Erinnerung kroch mit klebrigen Fingern an ihr herauf, doch sie schüttelte sie ab und griff nach dem Schlüsselbund. Sie wollte es noch einmal mit den Schlüsseln versuchen, ehe sie wie ein Einbrecher mit einem provisorischen Dietrich oder sogar einem Brecheisen hantierte, womit sie in beiden Fällen keinerlei Erfahrung besaß.
Isaura versuchte einen Schlüssel nach dem anderen, doch keiner passte in das kleine Schloss. Draußen donnerte es wieder. Die Abstände zwischen den Blitzen und dem Schall verringerten sich rasch. Das Gewitter schien direkt auf das Landgut am Duero zuzustreben. Das Licht der Deckenlampe flackerte. Isaura versuchte den letzten Schlüssel. Er ließ sich ins Schloss schieben und schien auch von der Art zu ihm zu passen, doch es gelang ihr trotz aller Anstrengung nicht, ihn zu drehen. Enttäuscht zog sie ihn wieder heraus.
»So ein Mist! Ich will da aber jetzt rein!« Frustriert schlug sie mit der flachen Hand gegen das Holz.
Mit einem leisen Knarren schwang die Tür zurück. Es war ihr, als könnte sie den Schatten einer Hand sehen. Eine alte, ausgemergelte Hand, die in einen schwarzen Ärmel überging. Isaura machte vor Schreck einen Satz zurück. Ein kalter Luftzug strich ihr über das Gesicht. Dann donnerte es, dass das ganze Haus erzitterte. Wieder flackerte die Deckenlampe, erlosch kurz, erholte sich dann aber wieder und erhellte mit ihrem gelblichen Schein die halb offene niedrige Tür, die sich mit einem Seufzen Stück
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