Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
für Stück weiter öffnete.
Fast ein wenig furchtsam trat Isaura näher und tastete nach einem Lichtschalter. Es war zwar einer da, doch es tat sich nichts, als sie ihn betätigte. So schob sie die Tür vollends auf, sodass das Licht aus dem Arbeitszimmer den kleinen Raum erhellte. Sie musste sich bücken, um durch die niedrige Tür zu treten. Zaghaft sah sie sich um. Natürlich war niemand zu sehen. Das hatte sie auch nicht erwartet. Sie begann sich an die Streiche ihrer Fantasie zu gewöhnen. Aber warum war die Tür so unvermittelt aufgegangen? War sie von Anfang an nicht verschlossen gewesen? Nein, das konnte nicht sein. Sie war sich sicher, schon vorher fest dagegengedrückt zu haben.
Dann hat sie einfach nur geklemmt, schloss Isaura. Der Wetterwechsel hat das Holz nachgiebig gemacht, und nun geht die Tür eben wieder auf.
Über das Ausdehnen und Zusammenziehen bei Trockenheit oder Feuchtigkeit machte sie sich keine Gedanken. Es fügte sich eben alles einfach gut zueinander.
Neugierig betrat Isaura die winzige Kammer. An der einen Seite standen einige Kartons, an der anderen konnte sie eine Kleiderstange mit verschiedenen historischen Kostümen sehen. Einst waren es sicher prächtige Gewänder gewesen, mit Rüschen und Stickereien aus schweren Samt- oder Brokatstoffen, doch jetzt waren die Farben verblasst, die Stoffe brüchig geworden. Vorsichtig schob Isaura sie auseinander. Es waren alles Frauengewänder, und sie erinnerten sie an die Bilder, die sie aus Spaniens goldenem Jahrhundert gesehen hatte. Die älteren Gewänder noch ein wenig bunter und fließender, wie man sie in Italien während der Renaissance getragen hatte, doch dann die Stoffe zunehmend fester, die Farben dunkler, die Schnitte steifer, bis die verführerischen Dekolletés der Damen verschwanden und von hohen, steifen Kragen oder gefältelten Halskrausen abgelöst wurden, über deren Rand man kaum noch auf seinen Teller hinabsehen konnte!
Isaura wunderte sich, woher sie das alles wusste. Es war doch erstaunlich, wie viele verborgene Schätze vergessen in einem Geist schlummern konnten, nur um im rechten Moment wieder preisgegeben zu werden.
Da entdeckte sie es.
Nein, eigentlich schlug ihr Herz bereits schneller, ehe sie es sah. Es war das Kleid! Nein, das konnte nicht sein. Es sah aus wie das Kleid, das die Frau auf dem Gemälde trug, ver besserte sie sich. Wie der Schmuck. Großtante Carmen oder jemand anderes hatte es nach diesem Bild nachschneidern lassen. Vorsichtig strich Isaura über den Stoff, der sich alt anfühlte. Verdammt alt!
Ein Donnerschlag ließ sie zurückzucken. Dann erlosch die Lampe im Arbeitszimmer. Mit einem Mal war es stockdunkel. Sie wartete kurz, ob sie wieder angehen würde, doch dieses Mal blieb das Licht aus. So dunkel, wie es war, musste im ganzen Haus der Strom ausgefallen sein. Fluchend tastete sich Isaura zur Tür und die Treppe hinunter in die Küche, wo auf dem Tisch der Leuchter mit den beiden Kerzen stand und auch Streichhölzer zu finden waren. Sie entzündete die beiden Dochte und kehrte mit dem Kerzenhalter in der Hand in den oberen Stock zurück. Isaura zog einen Hocker heran, auf dem die Kerzen sicher standen. Schließlich wollte sie nicht riskieren, durch Unachtsamkeit ihr Häuschen abzufackeln, was zwischen all den alten Stoffen und Kartons durchaus passieren konnte.
Isaura ließ von den alten Gewändern ab und wandte sich den Kartons zu, die aus verschiedenen Jahrzehnten zu stammen schienen, zumindest deutete der zunehmend verstaubte und fleckige Zustand der welligen Pappe darauf hin. Wahllos nahm sie sich eine Kiste vom Stapel und öffnete sie.
Briefe, so wie es aussah. Sie schienen in Spanisch geschrieben, doch in einer seltsamen, alten Schrift, und dennoch kam es ihr so vor, als könne sie verstehen, was dort geschrieben stand.
Damit konnte sie sich später befassen. Auch in der zweiten schienen Berge von Briefen gesammelt zu sein. Sie öffnete die nächste Kiste.
Bücher. Sehr alte Bücher, das sagten ihr schon die ledernen Einbände und die vergilbten Seiten, noch ehe sie das Druckbild sah. In einer kleineren Schachtel fand sie hölzerne Kistchen, die Schmuckstücke enthielten. Einige davon kunstvoller Silberschmuck aus der Gegend von Toledo – zumindest kam Isaura dieser Gedanke, auch wenn sie sich nicht rühmte, sich damit auszukennen. Der Schmuck wirkte auf sie außergewöhnlich, nicht so wie das, was man heutzutage an Touristen verkaufte, allerdings war er schwarz angelaufen und
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